Ich weiß, ich weiß – wir alle haben die Nase gestrichen voll von der Pandemie und das Ziel, bis Mitte 2022 70 Prozent der Weltbevölkerung zu impfen, liegt in weiter Ferne. Doch beim Thema Ungerechtigkeit können wir einfach nicht anders, als laut zu werden. Bereits im Sommer letzten Jahres hat es die EU geschafft, 70 Prozent der erwachsenen Bevölkerung vollständig zu impfen. Aktuell sind auf dem afrikanischen Kontinent gerade einmal neun Prozent der Menschen geimpft und so vor COVID-19 geschützt. Diese Fakten sind extrem ernüchternd, obwohl es gute Lösungsansätze gibt – wie die Freigabe der Patente zur Herstellung des COVID-19-Impfstoffs. Doch wie oft in dieser Pandemie sind auch zu diesem Thema Falschinformationen im Umlauf. Genau deswegen versuchen wir einmal, mit den Fakten aufzuräumen.

Was wir wissen:

Niemand ist vor COVID-19 sicher, bis wir alle sicher sind. Überall auf der Welt.

  • Die COVID-19-Impfung bleibt der Schlüssel zur Beendigung der Pandemie.
  • Weltweit wurden fast zehn Milliarden Dosen verimpft, die ärmsten Länder der Welt haben jedoch nicht einmal ein Prozent davon erhalten. 
  • Durch diese globale Ungerechtigkeit konnte es erst zu Virusmutationen wie Omikron kommen – wenn es so weitergeht, sind weitere Mutationen auf dem Vormarsch und gefährden dann auch wieder uns. 
  • Deutschland hat bereits finanzielle Unterstützung für die internationale Initiative COVAX zugesagt und der Abgabe überschüssiger Impfdosen zugestimmt – doch das reicht nicht mehr.
  • Durch den derzeitigen Fokus auf Profite inmitten einer globalen Pandemie hat das Virus für viele Menschen tödliche Folgen.

Damit alle Menschen weltweit Zugang zu Impfstoffen erhalten, muss die Impfstoffproduktion auf allen Kontinenten ausgeweitet werden. Die Pharmakonzerne sind bislang jedoch nicht bereit, das notwendige Wissen und die Technologie mit anderen Unternehmen zu teilen – sie wollen die Herstellung und Gewinne bei sich behalten. 

In der Realität heißt das:

Während Pfizer, Moderna und BioNTech Schätzungen zufolge 93,3 Millionen US-Dollar (rund 83,6 Millionen Euro) Gewinn pro Tag machen, wurden in afrikanischen Ländern gerade einmal 0,23 Impfungen pro Einwohner*in verabreicht. In Anbetracht von weltweit mehr als 5,5 Millionen Toten ist das blanker Hohn.

Inzwischen gibt es mehr als 100 Staaten, die fordern, die Patentrechte auf COVID-19-Impfstoffe vorübergehend auszusetzen. Hier kommt der sogenannte TRIPS-Waiver ins Spiel: Er ist eine Verzichtserklärung auf geistige Eigentumsrechte auf COVID-19-Medizinprodukte für die Zeit der Pandemie. Dieser von Indien und Südafrika bei der Welthandelsorganisation eingebrachte Vorschlag wird mittlerweile auch von Frankreich und den USA unterstützt.

Deutschland blockiert die Lösung zur COVID-19-Impfstoffproduktion

Eigentlich ein toller Plan, doch gerade Deutschland blockiert das ganze Vorhaben als eines der wenigen, aber entscheidenden Ländern. Die neue Bundesregierung bleibt der Argumentation der Regierung Merkels treu und scheut den Konflikt mit den Pharmaunternehmen. So hofft das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) weiterhin auf die freiwillige Kooperation der Pharmaunternehmen. Und auch der neue Wirtschaftsminister Robert Habeck, hauptverantwortlich für die Verhandlungen im Rahmen der Welthandelsorganisation, hat mit der Amtsübernahme eine Kehrtwende hingelegt und seine zuvor ausgesprochene Unterstützung für die Aussetzung der Patente nun zurückgezogen. Als Reaktion zu seinen Äußerungen während einer Pressekonferenz haben sich der MSF und weitere NGOs, unter anderem auch Global Citizen, dazu entschieden, ihm einen Offenen Brief zukommen zu lassen, um die Aufhebung der Patentrechte zu fordern.

Wir glauben, dass es zwei Jahre nach Beginn der Pandemie einen grundlegenden Kurswechsel in der globalen Pandemiebekämpfung braucht. Aus diesem Grund fordern wir die Bundesregierung und Bundeskanzler Olaf Scholz in einem Offenen Brief dazu auf, die Blockade des TRIPS-Waivers aufzugeben.

Vielleicht fragst du dich, ob das der richtige Weg zum Beenden der Pandemie ist. Zum Glück haben wir eine aktive Community an Global Citizens, die uns kritische Fragen stellt und unsere Position zur globalen Pandemiebekämpfung, insbesondere aber unsere Forderung zur Patentfreigabe, hinterfragt. Wir haben die häufigsten Fragen gesammelt und für dich noch einmal die wichtigsten Argumente und Quellen zur Forderung der Patentfreigabe zusammengestellt.

Wir hoffen, dass wir damit alle Fragen zum TRIPS-Waiver klären können und freuen uns über Feedback. Du kannst diesen Artikel auch gerne als Argumentationsbasis mit den Menschen in deinem Umfeld teilen.

Was genau ist der TRIPS-Waiver und wie könnte er sich auf die globale Impfstoffproduktion auswirken?

Bei dem Begriff TRIPS handelt es sich um ein von der Welthandelsorganisation verabschiedetes Abkommen (auf Englisch: Trade-Related Aspects of International Property Rights). Hier geht es um handelsbezogene Aspekte bei Rechten des geistigen Eigentums. Unter anderem findet man dort Bestimmungen zu Patenten. 

Der TRIPS-Waiver selbst ist also eine Ausnahmeregelung, um den Patentschutz auf Impfstoffe und andere Instrumente zur COVID-19-Bekämpfung vorübergehend auszusetzen. Die Vorteile wären, dass COVID-19-Impfstoffe dann von einer Vielzahl von Herstellern produziert werden könnten. Das wiederum beschleunigt die Impfstoffproduktion, sodass bald mehr Menschen Zugang dazu erhalten. 

Ist die Herstellung von COVID-19-Impfstoffen so komplex, dass sie nur in wenigen Ländern weltweit möglich ist?

Nein. Es gibt sowohl in Lateinamerika, Afrika und Asien pharmazeutische Unternehmen, die die notwendige Erfahrung und Kapazitäten zur Herstellung von COVID-19-Impfstoffen hätten. So wurde zum Beispiel im Oktober 2021 eine Studie in der New York Times zu zehn Unternehmen in Brasilien, Argentinien, Südafrika, Indien und Indonesien veröffentlicht, die das Potenzial und die Kapazitäten haben, mRNA-Impfstoffe zu produzieren. Diese Kapazitäten könnten durch weitere Investitionen ausgebaut werden.

Eine Studie von Ärzte ohne Grenzen und dem AccessIBSA Projekt zeigt deutlich, dass es mehr als 100 Unternehmen auf dem asiatischen, afrikanischen und lateinamerikanischen Kontinent gibt, die über die generellen technischen Voraussetzungen und Qualitätsstandards verfügen, um mRNA-Impfstoffe herzustellen. Beispielsweise wird gerade in Indien an einem mRNA-Impfstoff geforscht, der auch gegen die Omikron-Variante schützt.

Und klar, der Prozess zur Herstellung von mRNA-Impfstoffen ist noch relativ neu, doch auch Unternehmen ohne vorherige Erfahrung können ihn schnell erlernen. Das spanische Unternehmen Rovi ist zum Beispiel erst während der Pandemie in die Impfstoffproduktion eingestiegen und stellt jetzt Impfdosen für Moderna her. Auch Lonza, ein Schweizer Unternehmen, hat innerhalb von etwa sechs Monaten mit der Produktion des Moderna-Impfstoffs begonnen. In beiden Fällen hat Moderna die Rezeptur und eine Lizenz bereitgestellt, allerdings nur im Rahmen seines exklusiven Netzwerks von Produktionspartnern.

Die Vorstellung, dass nur Länder des Globalen Nordens mRNA-Impfstoffe produzieren könnten, basiert also nicht auf Fakten, sondern auf einem stark neokolonialen Gedanken, bei dem sich der Globale Norden weiterhin über Länder des Globalen Südens stellt und damit Unterdrückung ausübt.

Deutschland gibt über COVAX bereits überschüssige Impfdosen an andere Länder ab. Wieso reicht das nicht? 

Die bittere Realität ist leider, dass sich reiche Länder wie Deutschland letztes Jahr deutlich mehr Impfdosen gesichert haben, als sie für die eigene Bevölkerung benötigt haben. Erst danach haben sie zugestimmt, einen Teil der überschüssigen Dosen abzugeben. Was wie eine noble Tat wirkt, ist also in Wirklichkeit vielmehr eine Verstärkung der strukturellen Ungleichheit.  

Ein weiterer, trauriger Fakt: Obwohl im vergangenen Jahr knapp 670 Millionen Impfdosen von den G7-Staaten und der EU an Länder mit niedrigem oder mittlerem Einkommen abgegeben wurden, stellte sich dieser Prozess als sehr langsam und kompliziert heraus. Ein Großteil der Dosen wurde erst kurz vor Ende des Jahres abgegeben und in vielen Fällen war die Haltbarkeit der Impfdosen bereits fast abgelaufen. Dadurch kam es in einigen Fällen dazu, dass die Empfängerländer die Dosen nicht mehr nutzen konnten und sie teilweise sogar wegschmeißen mussten.

Die Weitergabe der Impfdosen hat sich also nicht wirklich als wirksame und nachhaltige Lösung erwiesen. Gleichzeitig ist es für Länder mit niedrigem Einkommen entmündigend, von der Wohltätigkeit reicherer Staaten abhängig zu sein, die Impfdosen horten und einen deutlich besseren Zugang zur Impfstoffproduktion haben. Durch den Ausbau der Produktionskapazitäten in allen Regionen der Welt könnten viele Länder in die Lage versetzt werden, Zugang zu ausreichend Impfstoff zu erhalten und die Verteilung eigenverantwortlich zu planen. Und was gibt es Wichtigeres, als selbstbestimmt entscheiden zu können?

Wie sieht die Infrastruktur in Ländern mit niedrigem Einkommen aus, was die schnelle Verteilung von Impfdosen angeht? 

In einigen Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen – insbesondere in abgelegenen Regionen – ist es nach wie vor schwierig, die Impfdosen einzusetzen. Es gibt logistische Herausforderungen bei der Lagerung, Kühlung und der Schulung von medizinischem Personal. Die an der COVAX Initiative beteiligten internationalen Organisationen arbeiten jedoch daran, die Infrastruktur in diesen Ländern zu stärken. 

Doch selbst wohlhabende Länder sind im Rahmen ihrer Impfkampagnen mit logistischen Herausforderungen konfrontiert – wie wir selbst jeden Tag in Deutschland erleben dürfen. 

Die logistischen Herausforderungen werden durch die fehlende Planbarkeit bei der Lieferung der Impfstoffe zusätzlich verschärft. Für Länder mit niedrigerem Einkommen und schwachen Gesundheitssystemen ist eine kontinuierliche und planbare Versorgung mit Impfstoffen aber umso wichtiger. Genau deswegen könnte ein direkter Zugang zu einer eigenen Impfstoffproduktion vor Ort den betroffenen Ländern helfen, den Einsatz der Impfstoffe besser zu planen und eine nachhaltige Infrastruktur aufzubauen.

Werden die Pharmaunternehmen dieses Jahr genug COVID-19-Impfstoff produzieren, sodass alle Menschen weltweit Zugang zu Impfdosen erhalten können? 

Theoretisch ja, aber mit Blick auf die bisherige Dynamik in der globalen Pandemiebekämpfung kann nicht damit gerechnet werden, dass die vorhandenen Impfdosen weltweit gerecht verteilt werden. Laut einer Prognose von Airfinity aus dem Jahr 2021 werden bis März 2022 weltweit insgesamt 18 Milliarden Dosen produziert. Das würde ausreichen, um 70 Prozent der Menschen in jedem Land mit drei Dosen zu versorgen. 

Wohlhabende Länder, in denen die Impfstoffe hauptsächlich produziert werden, haben jedoch weiterhin vorrangig Zugang zu den vorhandenen Impfdosen und planen bei der Beschaffung Puffer für Notfälle ein. Klingt ganz nach “same procedure as every year”.

Zudem entwickelt sich die COVID-19-Pandemie konstant weiter, was den Druck auf die weltweite Impfstoffversorgung verschärfen wird. Impfstoffe, die an neue Varianten angepasst sind, werden intensiv nachgefragt. Aus diesem Grund sollte das weltweite Angebot weiter ausgebaut und in allen Weltregionen direkter Zugang zur Impfstoffversorgung garantiert werden. 

Könnten Pharmaunternehmen freiwillig Lizenzen vergeben, um die Produktion in anderen Ländern zu ermöglichen? 

Ja und sie könnten dafür sogar finanziell entschädigt werden, aber weder BioNTech/Pfizer noch Moderna haben bisher Lizenzen auf nicht-exklusiver Basis vergeben. Die Unternehmen haben lediglich exklusive Partnerschaften mit einer kleinen Zahl an Herstellern geschlossen, um ihr eigenes Angebot auszubauen – hauptsächlich in den USA und Europa, wie im Fall des spanischen Unternehmens Rovi. 

Mit Sicherheit ist das für die Pharmaunternehmen der profitablere Weg, also dürfte diese Entscheidung aus wirtschaftlicher Sicht nicht weiter verwundern. Zusätzlich behalten sie die Kontrolle über die vielversprechende neue Technologie der mRNA-Impfstoffe. Doch der Fokus auf Profite inmitten einer globalen Pandemie hat für viele Menschen tödliche Folgen. Wenn wir die Pandemie weltweit beenden wollen, braucht es dringend Unternehmen, die Menschen vor Profite stellen. Die Patente freizugeben und Wissen sowie Technologie mit anderen Unternehmen zu teilen, wäre ein wichtiger Schritt in diese Richtung. 

BioNTech hat angekündigt, noch dieses Jahr Produktionsstandorte in einigen afrikanischen Ländern zu eröffnen. Die deutsche Bundesregierung unterstützt diese Pläne. Wieso braucht es dann noch eine Aussetzung der Patente? 

Bei dieser Frage besteht noch sehr viel Unklarheit. Bislang haben die Pharmaunternehmen nicht bekanntgegeben, wann diese Anlagen in Betrieb genommen werden, wie viele Dosen sie produzieren werden und vor allem, wem sie gehören und wer entscheidet, wie und wo die Impfdosen vertrieben werden. 

Wenn sich internationale Pharmaunternehmen in afrikanischen Ländern niederlassen, aber gleichzeitig die Eigentumsrechte behalten, gibt es keine Garantie dafür, dass die produzierten Impfdosen auch in afrikanischen Ländern zum Einsatz kommen. Im August 2021 berichtete die New York Times beispielsweise, dass Johnson & Johnson Millionen Dosen seines in Südafrika abgefüllten und verpackten COVID-19-Impfstoffs nach Europa und in andere Teile der Welt umgeleitet hat. Das geschah zu einem Zeitpunkt, an dem afrikanische Länder dringend Dosen benötigen und die Afrikanische Union einen Vertrag mit Johnson & Johnson über die Lieferung von 400 Millionen Dosen hat, der jedoch erst im Laufe des Jahres 2022 erfüllt wird. 

Deshalb bleibt die temporäre Patentfreigabe in Verbindung mit dem notwendigen Technologietransfer vonseiten der Pharmaunternehmen der beste Weg, um den Impfstoffzugang des afrikanischen Kontinents nachhaltig zu sichern.  

Riskieren die Pharmaunternehmen massive finanzielle Einbußen, wenn die Patente temporär freigegeben werden? 

Hier sollten drei Dinge beachtet werden:

1. Die Freigabe von Patenten, die im Rahmen des TRIPS-Waivers gefordert wird, ist eng auf COVID-19-Impfstoffe, -Tests, -Behandlungen und Schutzausrüstung beschränkt und zeitlich auf diese Pandemie begrenzt. 

Es handelt sich um eine außergewöhnliche Maßnahme als Reaktion auf eine außergewöhnliche globale Krise.  

2. Die Impfstoffe von BioNTech/Pfizer und Moderna wurden mithilfe von Milliarden an staatlichen Mitteln – also mit Steuergeldern – entwickelt. 

3. BioNTech/Pfizer und Moderna haben alle Erträge aus diesen öffentlichen Investitionen privatisiert und bis 2022 zweistellige Milliardenbeträge eingenommen, so dass ihre Impfstoffe zu den profitabelsten medizinischen Produkten aller Zeiten zählen. 

Die Nachfrage nach den Impfstoffen ist extrem hoch und wird es auch weiterhin bleiben. Diese Unternehmen würden weiterhin finanziell profitieren, auch wenn sie es weniger einkommensstarken Ländern ermöglichen würden, Impfstoffe für den eigenen Markt herzustellen.  

Wir können und wollen die heftige Ungerechtigkeit bei der globalen Impfstoffverteilung nicht weiter akzeptieren. Menschenleben gehören vor Profite und deswegen plädieren wir gemeinsam mit zivilgesellschaftlichen Organisationen weltweit dafür, dass die Patente für die Zeit der Pandemie freigegeben werden und das Wissen und die Technologien von den Pharmaunternehmen geteilt werden.

Willst auch du dich für globale Impfgerechtigkeit einsetzen? Dann werde hier aktiv und bitte Bundeskanzler Olaf Scholz und die Bundesregierung in diesem Offenen Brief darum, die Verzichtserklärung auf geistige Eigentumsrechte auf COVID-19-Medizinprodukte für die Zeit der Pandemie zu unterstützen. 

Advocacy

Armut beenden

#StopTheBlock – Warum Deutschland jetzt die Freigabe der Patente unterstützen muss

Ein Beitrag von Orsina Kather  und  Nora Holz