Über 15 Jahre hat Sean Ryan mit der berühmten Kriegsreporterin Marie Colvin zusammengearbeitet. Colvin wurde oft als egozentrisch und kompromisslos beschrieben. Doch Ryan, damals Leiter des Auslandressorts bei The Sunday Times in London, kannte auch die anderen Seiten der furchtlosen Journalistin.

Dutzende Male riskierte Colvin ihr Leben, um Kriegsverbrechen zu bezeugen. Im Februar 2012 wurde sie bei einem Bombenanschlag in Homs, Syrien, getötet.

Global Citizen hat mit Sean Ryan über das Leben und die Motivation Marie Colvins gesprochen, über die Risiken, denen sich viele Journalist*innen in Kriegsgebieten aussetzen – und über die Hoffnung, die er trotz der zahlreichen Kriege in dieser Welt nie verloren hat.

Als Journalist im Auslandsressort bei The Sunday Times hatten Sie täglich und hautnah mit Kriegen zu tun. 2016 haben Sie dem Journalismus den Rücken gekehrt und sind zu der Non-Profit-Organisation Save The Children gegangen. Was hat Sie dazu veranlasst?

Nach über 15 Jahren in einer solchen Position kann ich sagen: Ich habe diesen Job geliebt. Aber nachdem Marie starb, wollte ich das in dieser Form nicht mehr. Es war eine traumatische Erfahrung für mich und unser Team. Meine Redaktion bat mich nach Maries Tod, den Job ein Jahr lang weiter zu machen. Ich wurde danach auch befördert. Aber ich fragte mich, ob es für mich nicht noch mehr geben könnte, als Journalismus. Durch Zufall ergab sich dann die Möglichkeit. Bei einem Frühstückstermin traf ich die Leiterin der Fundraising-Abteilung von Save the Children. Sie fragte sie mich, ob ich mir nicht vorstellen könnte, als Mediendirektor bei ihnen zu arbeiten. Und das habe ich dann gern gemacht.

Marie Colvin wird häufig als furchtlose, aber auch sehr ehrgeizige Reporterin dargestellt. Wie haben Sie Colvin erlebt und was denken Sie war ihr Hauptanliegen?

Marie war sehr gerne in Gesellschaft, hatte viele berühmte Freunde und gab oft große Empfänge bei sich zu Hause. Sie liebte es, die Entertainerin zu spielen – obwohl dies nicht gerade ihre Stärke war. Ich erinnere mich daran, wie sie einmal den britischen Botschafter aus Afghanistan zum Essen eingeladen hatte. Ich und ein paar andere Freunde waren auch zu Gast. Gegen zehn Uhr Abends stellte sich heraus, dass Marie vergessen hatte, den Ofen anzumachen. Letztendlich haben wir dann um ein Uhr morgens mit dem Essen begonnen.

Marie liebte Partys, aber wenn es um ihre Arbeit ging, war sie eine äußerst seriöse und entschlossene Frau. Sie war sehr von der Idee getrieben, den Krieg und das Unrecht zu bezeugen  – das sagte sie immer wieder: ‘Es ist unser Auftrag, Zeugnis abzulegen’. Und sie war zutiefst davon überzeugt, dass dies dabei helfen würde, Menschenleben zu schützen.

Hat sich Colvin in ihrer Rolle als “Zeugin” und westliche Reporterin in einer geschützten Position gefühlt?

Als Marie [1999] aus Osttimor berichtete, verhalf ihre Anwesenheit in einem Flüchtlingscamp der Vereinten Nationen dabei, das Leben von tausenden Menschen zu retten, die von der indonesischen Armee belagert wurden. Zu diesem Zeitpunkt hatten die meisten Diplomat*innen und Journalist*innen das Lager bereits verlassen, weil es zu gefährlich wurde. Marie entschied sich, zu bleiben und schaffte es sogar, über das Fernsehen von vor Ort zu berichten. Ihre Entschlossenheit führte dazu, dass die UN die festsitzenden Menschen aus dem Lager befreiten und nach Australien brachten, wo sie ein neues Leben beginnen konnten. Später sagten ihr UN-Mitarbeiter*innen, dass es vor allem ihr Verdienst war, dass diese Menschen gerettet wurden.

Diese Erfahrung hat Marie bestärkt und davon überzeugt, sie könnte mit ihrer Berichterstattung Leben retten. Deshalb hat sie es wohl verweigert, Baba Amr [Stadtteil von Homs, Syrien] zu verlassen, als es zu riskant wurde. Sie hoffte, dass die UN oder die amerikanische und britische Regierung einschreiten würden. Aber dem war leider nicht so.

Wie waren die Reaktionen nach Colvins Tod? Hat sich danach etwas verändert?

Maries Tod rief viele Reaktionen hervor – der ehemalige US-Präsident Barack Obama und der ehemalige Premier David Cameron sprachen ihr Beileid aus. Aber das hat nichts an der Situation in Syrien geändert. Zu dieser Zeit haben die Belagerungen in Syrien gerade erst begonnen. Auf die grausamen Anschläge in Homs sollten noch viele weitere folgen. Angesichts der schrecklichen und andauernden Ereignisse in Syrien war es naiv von Marie zu glauben, dass ihre Anwesenheit die Zustände im Land verändern könnte. Wir haben die Rücksichtslosigkeit und Brutalität der Assad-Regierung zum damaligen Zeitpunkt unterschätzt.

Hatte Colvin ein Gefühl dafür, wann es zu gefährlich wurde?

Nein, sie nicht, aber ich. Als sie [in 2001] verletzt aus dem Konflikt aus Sri Lanka zurückkehrte, war sie wirklich traumatisiert. Sie hatte bei einem Angriff ihr linkes Auge verloren und trug von da an eine Augenklappe. Der Arzt diagnostizierte eine posttraumatische Belastungsstörung.
Ich wollte, dass sie in eine renommierte Klinik in London geht. Aber sie weigerte sich. Letztendlich ging sie dann doch in eine Klinik. Aber als sie zurückkam, wollte sie direkt wieder in den Krieg. Ich hielt das für keine gute Idee. Sie war noch nicht soweit. Aber als ich ihr das sagte, wurde sie wütend. Sie wollte nach Somalia, um dort über die Piraten zu berichten. Wir entschieden dann, dass sie erst einmal mit kleineren Geschichten anfangen solle – dem Konflikt in Palästina und einer Reise nach Saudi-Arabien. Als die Situation in Syrien hochkochte, entschied Marie, dass dies ihre “Come-Back-Story” werden sollte.

In dem Dokumentarfilm Under the Wire von Chris Martin sehen wir, wie wichtig Colvin der Bericht aus Syrien war. An einer Stelle sagt sie: “This is my story” – “Das ist meine Geschichte”. Wie haben Sie ihren Umgang mit anderen Journalist*innen, die ebenfalls aus Syrien berichteten, wahrgenommen?

Marie war unglaublich ehrgeizig. Aber sie konnte auch sehr unterstützend sein. Wenn sie auf ihren Recherchereisen junge Journalist*innen traf, gab sie ihnen wertvolle Tipps und händigte ihren bereitwillig ihre Kontaktdaten aus. Vor allem für junge Journalistinnen und Journalisten war sie oft eine Mentorin. Manchmal hatte sie allerdings eine wirklich beängstigende Art an sich. Sie konnte sehr schnell aus der Haut fahren, sie war dominant und laut – das schüchterte viele ein. Aber sie wusste sehr viel über das Arbeiten in Konfliktregionen. Wenn ich damals als junger Journalist im Krieg unterwegs gewesen wäre, wäre es Colvin gewesen, bei der ich mir Rat geholt hätte.  

Wir leben in einer Zeit, in der sich Journalismus oft gegen den Vorwurf von “Fake News” verteidigen muss. Inwiefern kann die Arbeit von Kriegsreporter*innen wie Colvin dazu beitragen, Menschen über wahre Begebenheiten aufzuklären?

Das ist eine Frage, die wir uns in der Redaktion oft gestellt haben, vor allem in Bezug auf Syrien: Was kann unsere Berichterstattung zu den Berichten der lokalen Aktivist*innen und den Videos auf YouTube hinzufügen? Eine Voraussetzung für unsere Berichterstattung beruhte auf dem Vertrauen in unsere Journalist*innen. Eine für ihre Integrität bekannte Reporterin wie Colvin konnte bereits mit ihrem Ruf und ihrem Namen dafür sorgen, die nötige Aufmerksamkeit für einen Konflikt zu generieren. Aber die Medienlandschaft verändert sich zur Zeit mit einer nie dagewesenen Schnelligkeit. Die meisten Nachrichten werden heute kostenlos angeboten. Das führt dazu, dass die meisten Nachrichtenmagazine es sich nicht mehr leisten können,  investigativen Journalismus zu betreiben und die gleiche Zahl an Kriegsreporter*innen auszusenden, wie früher.

Was könnten neue Wege sein?

Ich plädiere dafür, dass Journalist*innen und Nichtregierungsorganisationen [NGOs] wie Save the Children stärker zusammenarbeiten. Wir haben durch unsere Projekte in zahlreichen Ländern die Möglichkeit, aus Situationen zu berichten, die für viele Reporter*innen schwierig zugänglich geworden sind. Über die neuen Technologien können wir ganz leicht etwa Videos aufnehmen und sie mit vertraulichen Journalist*innen teilen. Dadurch ergeben sich neue Kooperations- und Austauschmöglichkeiten. Daher denke ich, dass die Rolle von NGOs, die Projekte in Krisengebieten durchführen, für die Berichterstattung der Zukunft sehr wichtig wird. Denn letztendlich sind es die Geschichten von Menschen, die uns alle immer interessieren werden. Und genau die können NGOs wie Save the Children, die seit Jahrzehnten in den Krisenregionen unserer Welt arbeiten, aus erster Hand erzählen.

Angesichts einer Welt, die für viele Menschen von Krieg geprägt ist: Was gibt Ihnen Hoffnung?

Ich sehe besonders viel Optimismus und Hoffnung in Kindern. Oft habe ich erlebt, wie Kinder nach langen, strapaziösen Reisen in Flüchtlingscamps ankommen und dennoch hoffnungsvoll bleiben und die Energie finden, miteinander zu spielen. Viele von ihnen übernehmen bereits in jungen Jahren sehr verantwortungsvolle Rollen in diesen Lagern – als Lehrer*innen oder Handwerker*innen oder indem sie unsere Arbeit von Save the Children unterstützen. Ich denke, wenn man mit Kindern über ihre Wünsche für ihre Zukunft spricht und dann ihre Stärke und ihr Potenzial aufleuchten sieht, dann gibt einem das Hoffnung.

Was würden Sie Menschen raten, die aktiv werden möchten?

Ich glaube, dass viele Menschen momentan das Bedürfnis haben, sich mit den großen Herausforderungen unserer Zeit auseinanderzusetzen und aktiv zu werden. Das zeigt sich ganz deutlich bei den globalen Klimastreiks, die gerade stattfinden. Zudem sind gemeinnützige Vereine eine hervorragende Plattform für Menschen, um sich zu engagieren und ein Gegengewicht zur “Mainstream”-Politik oder zu rechtspopulistischen Bewegungen zu bilden. Deshalb würde ich jedem, der aktiv werden möchte, empfehlen, sich ein Thema auszusuchen, das sie oder ihn besonders interessiert und sich einer NGO in diesem Bereich anzuschließen. Bei dieser Entscheidung spielt das Alter keine Rolle – die globale Klimabewegung zeigt ja, wie viel junge Menschen leisten können. Gerade Kinder haben eine ganz besondere Macht in diesem Zusammenhang: Denn niemand kann einem Kind, das die eigene Stimme erhebt, das Wort verbieten. Das ist einfach ein Ding der Unmöglichkeit.


In einer kurz vor ihrem Tod veröffentlichten Reportage beschreibt Marie Colvin eindringlich, wie in Syrien Menschenrechtsverletzungen begangen werden. Am 22. Februar 2012 starb Colvin bei einem Anschlag auf das Medienzentrum in Holmes. Paul Conroy, der als Fotograf mit Colvin aus Homs berichtete, wurde bei dem Anschlag ebenfalls verletzt. In dem Buch “Under the Wire” verarbeitet er die Geschehnisse und den Tod seiner Kollegin. 2018 ist der gleichnamige Dokumentarfilm erschienen, der die Arbeit der verstorbenen Kriegsreporterin ehrt. Im Rahmen des diesjährigen Human Rights Film Festival in Berlin bei dem auch Save the Children Partner ist, trafen wir Ryan für das Interview.

Editorial

Gerechtigkeit fordern

Zeugen des Kriegs: Über das Risiko, das Kriegsreporter*innen für die Wahrheit auf sich nehmen

Ein Beitrag von Jana Sepehr  und  Pia Gralki