Es ist wohl nicht übertrieben zu sagen, dass viele Mütter und Väter auf der Welt die gleiche Furcht teilen: nämlich, dass dem eigenen Kind etwas zustößt und man nichts dagegen tun kann.
Genauso erging es auch einer Familie in Afghanistan. Ihr jüngster Sohn namens Khaksar war zu der Zeit 12 Monate alt. Dann brach plötzlich Fieber aus.
Khaksar weinte den ganzen Tag. Sein Vater besuchte mehrfach den Arzt in dem kleinen Dorf in dem sie lebten, im Osten Afghanistans. Die vergangenen Kriegsjahre konnte man an jedem einzelnen Einschussloch in der Arztpraxis ablesen. Doch auch die Medikamente, die ihm der Arzt jedes Mal mit nach Hause gab, konnten Khaksars Leiden nicht lindern.
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— Los Angeles Times (@latimes) 10. November 2016
So ging das eine Woche lang, bis die Eltern endlich das Geld für ein Taxi aufbringen konnten, um Khaksar in das über eine Autostunde entfernte Krankenhaus in Asadabad zu bringen. Denn innerhalb dieser Woche fingen die ersten Lähmungserscheinungen an: Khaksar konnte sein rechtes Bein nicht mehr bewegen.
Nur wenige Tests reichten den Ärzten im Krankenhaus aus, um festzustellen, dass sich Khaksar mit dem Poliovirus angesteckt hatte; eine Krankheit, die so gut wie ausgerottet ist und nur noch in zwei bis drei Ländern der Welt vorkommt. Eines davon ist Afghanistan, das andere Pakistan - und seit diesem Jahr gehört leider auch Nigeria wieder dazu.
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Laut Los Angeles Times kam es dieses Jahr zu insgesamt 32 Poliofällen auf der Welt: 4 in Nigeria, 16 in Pakistan und 12 in Afghanistan. Vier der Fälle in Afghanistan - das heißt Khaksar und drei weitere Kinder - leben in den Dörfern des Sheltan Tals. Insgesamt leben in dem Tal nicht mehr als 1.000 Menschen.
Gerade hier an der Grenze zu Pakistan, einem Zufluchtsort für die Taliban, kam es in den letzten Jahren vermehrt zu neuen Poliofällen. Aber warum hier?
Die Antwort ist schnell gefunden: andauernde gewaltvolle Auseinandersetzungen, die es verhindern, dass Kinder die nötigen Impfungen bekommen, die sie brauchen, sowie eine ablehnende Haltung gegenüber Allem, was mit der westlichen Welt zu tun hat.
Denn in den letzten vier Jahren war die Provinz, in der auch Khaksar lebt, eine absolute „No-go-Area” für sämtliche Gesundheitshelfer, die sich dafür einsetzen, dass die Kinder in den Dörfern gegen das Poliovirus geimpft werden. Die Taliban hatten die Gegend rund um den Hindukusch fest in ihrem Griff und redeten den hier lebenden Menschen immer wieder ein, dass der „Westen” nichts Gutes mit ihnen vorhatte und ihre eigenen Kinder durch die Impfungen töten wolle. Gesundheitshelfer sind unter keinen Umständen in das Gebiet zu lassen.
Jetzt allerdings, seitdem die Gefahr weitestgehend gebannt ist und die internationale Zusammenarbeit wieder aufgenommen wurde, kann mit den Bewohnern der Dörfer gesprochen werden und können die Kinder gegen Polio geimpft werden. Und das ist wichtiger denn je. Denn eigentlich steht die Welt kurz davor, Polio als die zweite Krankheit in der Geschichte der Menschheit für immer auszurotten.
Aus diesem Grund lief zwischen dem 9. und 11. September auch durch das Gesundheitsamt Afghanistans sowie UNICEF und WHO eine Impfkampagne, um weitere 5,6 Millionen Kinder gegen Polio zu impfen. Insgesamt haben sich 25.000 Gesundheitshelfer dafür eingesetzt, dass so viele Kinder wie möglich geimpft wurden.
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Die Chancen, das Ziel zu erreichen, stehen also mehr als gut! Noch vor rund 60 Jahren sind hunderttausende Kinder und Jugendliche an Polio erkrankt. Seit der Wissenschaftler und Arzt Jonas Salk jedoch die entscheidende Impfung gegen Polio entdeckte und mehr und mehr Länder auf eine flächendeckende Immunisierung setzten, fielen die Zahlen der Polioerkrankungen immer weiter gen Null. Jetzt sind nur noch Afghanistan, Pakistan und Nigeria übrig, in denen Polio vorkommt.
Weil sich die Gesundheitshelfer auf der ganzen Welt so sehr für den Schutz aller Kinder einsetzen, könnte Khaksar das letzte Kind sein, dass sich jemals mit dem Poliovirus angesteckt hat!
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— Post-Polio News (@postpolionews) 10. November 2016
Obwohl dies natürlich gute Nachrichten für den Rest der Welt sind, spendet diese Gewissheit nur wenig Trost für die Eltern des kleinen Jungen.
In den ländlichen Gegenden Afghanistans sind die meisten Menschen gezwungen, körperlich anspruchsvoller Arbeit nachzugehen. Eine körperliche Behinderung ist das Schlimmste, was einer Familie passieren kann. Khaksars Großvater Duran sagt: „Wir wissen nicht, was wir jetzt tun sollen. Nur Gott weiß, was mit ihm geschieht.”
Die Ärzte in Asadabad haben Khaksar nun fürs Erste mit einer Schiene für sein rechtes Bein ausgestattet. Die soll Khaksars Bein vor Muskelschwund bewahren - auch wenn er selbst zu jung ist, zu verstehen, wie wichtig die Schiene ist und er die Schiene absolut nicht mag. Er muss von seinen Eltern daher immer wieder ermahnt werden: „Wenn er die Schiene trägt, kann unser Sohn vielleicht eines Tages wieder laufen. Ohne Schiene wird das nicht möglich sein.”
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Seit Mai gab es keine neuen Poliofälle mehr im Sheltan Tal. Es scheint, als würde sich die Arbeit aller Gesundheitshelfer auszahlen. Selbst die afghanische Regierung wagte nun einen vorsichtigen Blick in die Zukunft: bis Mitte 2017 könnte Afghanistan das Virus ein für alle Mal ausgerottet haben.