Warum das wichtig ist
Die LGBTQIA+ Community ist überproportional von extremer Armut betroffen. Schädliche Praktiken wie die sogenannte “Konversionstherapie” stellen eine zusätzliche Bedrohung und Verletzung der Menschenrechte dar. Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen (UN) setzt sich für ein Ende dieser menschenunwürdigen Praxis ein. Werde hier mit uns aktiv, damit jeder Mensch ein gleichberechtigtes und gesundes Leben führen kann.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Text enthält Gewalterfahrungen von Betroffenen.


A.O. war dreizehn Jahre alt, als sie zum ersten Mal von einem Pastor mit einem Besen geschlagen wurde. Diese Gewaltanwendung war Teil einer “Konversionstherapie”, die A.O. in Nigeria durchleben musste. Mit Fünfzehn wurde sie von ihrer Mutter in eine Kirche geschickt, wo sie in einen Raum eingesperrt wurde. Hier sollte sie für einen Monat lang fasten und beten, wurde gefoltert und gedemütigt – und das alles, um ihre sexuelle Orientierung zu “korrigieren”.

A.O., die ihre Geschichte mit der Menschenrechtsorganisation OutRight Action International teilte und deren Name auf ihren Wunsch hin abgeändert wurde, ist heute 46 Jahre alt. Sie selbst bezeichnet sich als lesbisch. Die Gewalt- und Missbrauchserfahrungen während der Konversionstherapie haben sie für ihr Leben geprägt.

Pseudowissenschaftliche Gewalt

A.O.s Geschichte ist verstörend, nicht nur aufgrund der schmerzvollen Details, sondern auch, weil ihre Erfahrungen leider keine Seltenheit sind: So geben Millionen Menschen weltweit an, aufgrund ihrer sexuellen Orientierung auf ähnliche Weise bedroht oder verletzt worden zu sein.

Die Konversionstherapie ist eine pseudowissenschaftliche oder religiös beeinflusste Praxis, die darauf ausgerichtet ist, die sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität eines Menschens zu ändern. Ihr Ziel ist es, den jeweiligen “zu behandelnden” Menschen zur Heterosexualität oder zum Cisgendertum zu bekehren. Letzteres bezeichnet Menschen, deren Geschlechtsidentität sich mit dem ihnen angeborenen Geschlecht deckt. Cisgender stehen etwa Transpersonen gegenüber, deren Identität nicht mit dem ihnen angeborenen Geschlecht übereinstimmt.

Diese “Therapien” entbehren jeglicher medizinischer Grundlage, sind in fast jedem Land verbreitet und laufen meist auf Folter hinaus, berichtet Victor Madrigal-Borloz, unabhängiger Experte des UN-Menschenrechtsrat für den Schutz der sexuellen Orientierung und Geschlechtsidentität vor Gewalt und Diskriminierung (IE SOGI).

So geben Konversionstherapien oft vor, legitimiertes Wissen aus wissenschaftlich fundierten oder religiösen Quellen zu beinhalten. Durch Werbung und Kampagnen konnten sich die Falschinformationen über viele Jahre verfestigen.

“Das Fortbestehen der sogenannten Konversionstherapien steht in direktem Zusammenhang mit den Vorstellungen über LGBTQIA+ und dem Grad, in dem wir [LGBTQIA+] in unseren Familien, unserem Glauben und der Gesellschaft insgesamt akzeptiert werden", sagt Jessica Stern, Geschäftsführerin von OutRight Action International, gegenüber Global Citizen. "Wenn Homophobie und Transphobie vorherrschen, sind die Folgen Stigma, Diskriminierung und Gewalt.”

So laufen Konversionstherapien weltweit ab

Konversionstherapien wurden bereits in über 68 Ländern registriert und Studien nehmen an, dass sie an allen Regionen der Welt praktiziert werden. Das verdeutlicht ein Bericht der Vereinten Nationen, der im Juni 2020 veröffentlicht wurde. Die selbsternannten Therapien finden oft in einem institutionellen Rahmen statt, wie etwa in Krankenhäusern oder Kirchen, aber auch unter informellen Umständen, abhängig von den jeweiligen kulturellen Gegebenheiten der jeweiligen Gemeinde.

Die unterschiedlichen Praktiken können daher stark variieren, ihr gemeinsames Ziel bleibt: Die Identität von LGBTQIA+ zu verändern unter Anwendung von Gewalt, Traumatisierung und Ausgrenzung.

Laut Jessica Stern bestehen jene Konversionstherapien durch die alltägliche Diskriminierung und Gewalt fort, denen LGBTQIA+ oft auf familiärer, kommunaler und systemischer Ebene ausgesetzt sind.

"Ganze Systeme und Gemeinschaften sind an der Durchführung von Konversionstherapien beteiligt", so Stern. "Jeder, von der Tante über den religiösen Wortführer bis hin zu einem Nachbarn [könnte daran beteiligt sein]”.

"Es [das System] kann eine Kombination von Gesetzen sein, die LGBTIQIA+ herabwürdigen, wie religiöse oder kulturelle Interpretationen, die uns als weniger wertvoll als andere Menschen wahrnehmen, aber auch familiäre und kulturelle Vorstellungen davon, wer und was eine Familie ausmacht", fügt sie hinzu.

Die 3 Arten der Konversionstherapie

Hinter diesen Konversionstherapien steckt oft eine betrügerische profitorientierte Industrie, die mit den Ängsten, Vorurteilen und Fehlinformationen von Menschen spielt. Laut UN können diese Therapien in drei Kategorien unterteilt werden: Psychotherapie, sowie in die “medizinische” und glaubensbasierte bzw. religiöse Therapieform.

Der psychotherapeutische Ansatz geht davon aus, dass LGBTQIA+ bestimmte Erfahrungen gemacht haben – etwa durch die fehlende Liebe ihrer Mutter oder einen abwesenden Vater –  die für ihre sexuelle Orientierung oder Identität verantwortlich sind. Somit deuten diese Programme die Abweichung von binären Geschlechteridentitäten als Charakterfehler, der auf Kindheitstraumata zurückzuführen sei. In der sogenannten dazugehörigen Aversionstherapie sollen

Menschen durch Schmerzsignale von bestimmten Denk- und Verhaltensmustern abgehalten werden. Ziel ist eine erzwungene Einschreibung von stereotypen "männlichen" oder "weiblichen" Reaktionsweisen.

Bei der sogenannten “medizinischen” Therapieform wird behauptet, dass nicht-heteronormative sexuelle Orientierungen und Geschlechtsidentitäten aus einer biologischen Dysfunktion resultieren, die mit Medikamenten oder einer Operation korrigiert werden könnten.

In China wurden Berichte von Menschen laut, die sich einer Elektroschocktherapie und medizinischen Injektionen unterziehen mussten. In Indien werben Ärzt*innen laut UN mit der Hormontherapie als Mittel zur "Heilung" von Menschen. Diese Methoden werden auf der ganzen Welt eingesetzt.

Religiöse Form ist oft die Extremste

Glaubensbasierte Praktiken stellen oft die extremste Form der Konversionstherapie dar. Hier neigen die Praktizierenden dazu, LGBTQIA+ Identitäten als eine grundsätzlich unmoralische "Entscheidung" zu betrachten bzw. unterstellen den “Probanden” eine verinnerlichte Unmoralität.

Versuchspersonen in diesen Programmen werden oft zum Beten gezwungen, ausgehungert, angeschrien und beschimpft, mit Gegenständen geschlagen, sexuell missbraucht und vieles mehr. Exorzismen, bei denen Praktizierende versuchen, einem Menschen eine dämonische Energie zu entlocken, kommen ebenfalls häufig vor.

"Man kann die sexuelle Orientierung oder geschlechtliche Identität eines Menschen nicht ändern, ob man jemandem nun eine Pille gibt, sie wegbetet oder mit einem Zauberstab wedelt", sagte Stern. "Wir sind, wer wir sind. Wir können uns nicht ändern – die Welt um uns herum muss sich ändern."

Die Folgen von Konversionstherapien

Alle Arten der Konversionstherapie sind “von Natur aus demütigend, erniedrigend und diskriminierend", so Madrigal-Borloz. Die Folgen werden durch die Tatsache, dass die Mehrheit der Betroffenen junge Menschen sind, noch verstärkt.

So sind schätzungsweise 80 Prozent der Menschen, die einer Konversionstherapie ausgesetzt werden, unter 24 Jahre alt. Die Hälfte aller Betroffenen ist sogar unter 18 Jahre alt, berichtet die UN.

Jugendliche diesen schädlichen Praktiken auszusetzen, kann zu lebenslangen mentalen und körperlichen Schäden führen.

"Es ist so erschütternd, dass junge Menschen etwas so Traumatisches erleben", sagt Stern. "Das verändert einen buchstäblich für den Rest des Lebens", fügt sie hinzu.

Scham, Schuld und Selbstverachtung

Die UN berichtet, dass Einzelpersonen "tiefe Gefühle von Scham, Schuld, Selbstverachtung und Wertlosigkeit empfinden, die zu einer beschädigten Selbstwahrnehmung und dauerhaften Persönlichkeitsveränderungen führen können". Dazu gehören ein erheblicher Verlust an “Selbstwertgefühl, Angst, Depressionen, soziale Isolation, Schwierigkeiten mit Intimität, Selbsthass, Scham und Schuldgefühle, Selbstmordgedanken und Selbstmordversuche, sowie Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung und oft erhebliche körperliche Schmerzen und Leiden".

Durch diese dramatischen Folgen sind Betroffene besonders gefährdet, die Schule abzubrechen, ihren Job zu verlieren oder in die Obdachlosigkeit abzurutschen. Einge entwickeln Essstörungen sowie weitere gesundheitliche Komplikationen.

Folgende Erfahrungsberichte, die Überlebende jener Konversionstherapien mit der Organisation OutRight Action International teilten, zeigen, wie tiefgreifend die Folgen sein können.

“Als ich versuchte, mich umzubringen, bin ich nicht gestorben", sagt Re. Nokuthula Dhladhla, eine 46-jährige Frau, die sich als lesbisch bezeichnet und in Südafrika lebt, nachdem sie vergewaltigt und gefoltert wurde.

"Meine Familie verleugnete mich", erzählt George Barasa, ein 28-jähriger Kenianer, der in Südafrika lebt, homosexuell ist und sich keinem bestimmten Geschlecht zugehörig fühlt. "Ich hatte die Wahl: mich verändern oder abgelehnt zu werden. Ich entschied mich dafür, verleugnet zu werden. Ich war so naiv und deprimiert. Einige Menschen nutzten dies aus. Dabei wurde ich mit HIV infiziert. Ich habe versucht, mich umzubringen (...) und wurde von Nachbar*innen, die nach mir suchten, bewusstlos aufgefunden.”

"Ich habe versucht, weiterzumachen, aber die religiöse Therapie hat mich gebrochen und bis heute fällt es mir schwer zu glauben, dass es überhaupt einen Gott gibt", sagt Jay Angweny aus Kenia, der sich selbst als homosexuell bezeichnet.

Das wird weltweit unternommen, um Konversionstherapien zu beenden

Organisationen wie die Vereinten Nationen, die US-amerikanische Non-Profit Organisation The Trevor Project und OutRight Action International fordern ein weltweites Verbot der Konversionstherapie. Ihre Begründung: Jede Form dieser Praxis stellt eine Menschenrechtsverletzung dar, die gegen das Völkerrecht verstößt und das Wohlergehen und die Sicherheit von LGBTQIA+ bedroht.

Aktuell ist die Konversionstherapie in fünf Ländern – Deutschland, Malta, Ecuador, Brasilien und Taiwan – verboten. Mehr als ein Dutzend weiterer Länder ziehen dies in Erwägung. Hunderte von Städten und Gemeinden auf der ganzen Welt haben Verbote auf lokaler Ebene erlassen.

Doch der Weg dahin war ein mühsamer Prozess, der umfangreiche Aufklärungsarbeit erforderte. "Wenn es uns gelingt, einen Schneeballeffekt zu erzeugen, wenn wir internationale Richtlinien und Standards schaffen können, die besagen, dass die Konversionstherapie einer Folter gleichkommt, dann wird es für die Staaten leichter, sie gesetzlich zu verbieten, und für die Ärzteverbände wird es leichter, Ärzt*innen von ihrer Durchführung abzuhalten", fügt Stern hinzu.

Religiöse Wortführer müssten diese Praxis ebenfalls verurteilen und ihre Unterstützung für LGBTQIA+ demonstrieren, so Casey Pick von The Trevor Project gegenüber Global Citizen. Zudem müssen Länder weltweit alle Formen der Diskriminierung von LGBTQIA+ am Arbeitsplatz, in privaten Einrichtungen, in der Öffentlichkeit und zu Hause verbieten.

Aufgrund der weit verbreiteten Diskriminierung sind LGBTQIA+ überproportional von Armut betroffen. Die COVID-19-Pandemie verstärkt die ohnehin bestehenden Ungleichheiten zusätzlich.

In 73 Ländern weltweit ist Homosexualität verboten

Gegenwärtig ist Homosexualität noch immer in 73 Ländern verboten. In verschiedenen anderen Ländern ist die Diskriminierung von LGBTQIA+ gesetzlich erlaubt. Diese Gesetze fördern Gewalt und führen dazu, dass LGBTQIA+ an den Rand der Gesellschaft gedrängt und ihnen ihr Menschsein abgesprochen wird.

"Die Gesetze der Gesellschaft und die Prinzipien der menschlichen Moral müssen auch für die Art und Weise gelten, wie wir mit der LGBTQIA+ Community umgehen”, so Stern.

Die Unterstützung von LGBTQIA+ hängt auch von der Gewährleistung grundlegender Menschenrechte ab, etwa eine angemessene Gesundheitsversorgung, Wohngeld, Bildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten, finanzielle Unterstützung, nahrhafte Lebensmittel, sauberes Wasser und eine saubere Umwelt.

"Um die Konversionstherapie zu beenden, brauchen wir nicht nur gute Gesetze, sondern auch Liebe und Akzeptanz der LGBTQIA+ innerhalb unserer religiösen Gemeinden, Familien und Gesellschaften", sagt Stern.

"Das ist das Einzige, was dieser barbarischen Praxis ein Ende bereiten wird”, so Stern.


Wenn du homophobe oder transphobe Gewalt erfahren hast, jemanden kennst, der betroffen ist oder Fragen zum LGBTQIA+ Lebensumfeld hast, findest du bei der Enough-Is-Enough-Initiative eine Sammlung an Beratungsstellen. Im Notfall kannst du den Rettungsdienst unter der 112 oder die Polizei unter der 110 kontaktieren.

Advocacy

Gerechtigkeit fordern

“Konversionstherapie”: Was diese menschenunwürdige Praxis ist und wie wir sie beenden können

Ein Beitrag von Joe McCarthy  und  Pia Gralki