“Ich stimme dir zu. So viele Menschen haben keinen Zugang, während einige sie nicht nehmen wollen… Ich denke, so funktioniert die Welt einfach. Sie ist nicht wirklich fair. Ich glaube nicht, dass die Welt jemals fair sein wird.”

Das ist die Antwort von meiner nigerianischen Freundin Ola*, nachdem ich ihr erzählte, dass wir in Deutschland bereits die dritte COVID-19-Impfung erhalten, während auf dem afrikanischen Kontinent gerade mal sechs Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft wurden. Ihre Worte versetzen mich in einen Zustand der Hilflosigkeit. Aber sie sind nicht die einzigen.

Im April diesen Jahres hinterließ meine indische Freundin Radhika* auf Facebook jeden Tag einen Post, in dem sie ihren gesamten Bekanntenkreis um Hilfe auf der Suche nach Beatmungsgeräten fragte. Es ging jedes Mal um eine andere Person. Wann immer jemand auf ihre Anfrage antwortete, kam von ihr meist nur zurück: “Danke. Doch die Person lebt nicht mehr.” Innerhalb von zehn Tagen verlor Radhika ihre Schwiegermutter an COVID-19. 

Und dann ist da Hang*, die in Saigon lebt und als einzige Möglichkeit zum Schutz gegen den Virus nur die Impfstoffe von AstraZeneca zur Verfügung hat. Ende September wurde die Stadt von ihrem dreimonatigen Lockdown befreit, in dem die Einwohner*innen ihre Wohnungen und Häuser nur verlassen durften, wenn sie Lebensmittel einkaufen oder wichtige Termine wahrnehmen mussten. Die Lieferung ihrer Antidepressiva wurde gestoppt und sie kämpfte mit den verheerenden Folgen der Isolation. Wir haben fast jeden Tag telefoniert.

In Deutschland streitet man sich über die COVID-19-Impfung, während viele Menschen nicht mal das Privileg haben, sie abzulehnen.

Und hier? Im Familien-Chat erfahre ich, dass meine Großeltern nun Auffrischungsimpfungen erhalten haben, die sogenannten Booster-Impfungen. Bei bestimmten Personengruppen kann es zu einer reduzierten oder nachlassenden Immunantwort kommen. Hierbei handelt es sich besonders um Menschen über 70 Jahre oder solche mit einem geschwächten Immunsystem. Doch grundsätzlich können sich alle eine Auffrischungsimpfung abholen, deren zweite Impfung je nach Bundesland mindestens fünf oder sechs Monate zurückliegt. 

Genau hier liegt mein Dilemma: Einerseits freue ich mich darüber, dass meine Familienmitglieder durch die Booster-Impfung weiterhin geschützt bleiben, andererseits finde ich es schrecklich zu wissen, dass Ola immer noch der großen Gefahr ausgesetzt ist, an COVID-19 zu erkranken oder gar ihr Leben zu verlieren. Während sich die Gesellschaft in Deutschland darum streitet, ob sie sich impfen lässt oder nicht, haben so viele Menschen auf der Welt nicht mal das Privileg, sie abzulehnen. 

Lange Zeit wusste ich selber nicht, wie ich zu der Impfung stehen sollte. Ich fand es schwierig, wenn Freund*innen sich beispielsweise impfen ließen, um wieder reisen zu können. In Anbetracht der Tatsache, dass so viele Menschen durch den Virus sterben, der vor Grenzen nicht Halt macht, fand ich dieses Verhalten recht makaber. Während einige Leute den Tag ihrer Impfung zelebrierten, hatte all das einen bitteren Beigeschmack für mich. Ich stand die ganze Zeit mit Ola, Radhika und Hang in Kontakt und mir wurde schmerzlich bewusst, wie sehr meine Hautfarbe und Herkunft mir eine Entscheidungsfreiheit gab, die meine drei Freundinnen nicht hatten. 

Bis mir Hang so was wie Absolution erteilte. Wieder einmal redete ich mit ihr über die Ungerechtigkeit der Welt, als sie mir sagte, dass auch ich sie damit schützen würde, wenn ich mich impfen ließ. Denn niemand ist sicher vor der Pandemie, wenn nicht alle auf der Welt geschützt sind. Diese Erkenntnis bleibt und bestätigt sich leider mit jeder weiteren Infektionswelle. 

Impfungerechtigkeit führt zu neuen Mutationen des COVID-19-Virus

Die aktuellen COVID-19-Zahlen sind in Deutschland sehr besorgniserregend. Trotz der vielfältigen Möglichkeiten sind immer noch zu viele Leute nicht geimpft. Viele Krankenhäuser gelangen an ihre Kapazitätsgrenze. 

Gleichzeitig macht es mich kaputt, wie sehr sich Menschen hier gegenseitig anfeinden. Aus meinem Bekanntenkreis kenne ich die komplette Bandbreite: Leute, die sich geimpft haben, sich impfen wollen, nicht geimpft werden können oder es wollen. Doch eins bleibt mir wichtig: Der Respekt gegenüber der Person. 

Sicherlich hatten wir unsere Schwierigkeiten, mit dem COVID-19-Virus umzugehen und auch wenn nicht jede Maßnahme klug durchdacht war, so hatte ich als Individuum doch immer Entscheidungsfreiheit. Ich habe das Gefühl, dass viele das in ihrer eigenen Problem-Bubble oft vergessen. Durch Ola, Radhika und Hang wurde mir dieser Spiegel jedoch jeden Tag vor Augen geführt.

Die anhaltende Ungerechtigkeit bei den weltweiten Impfungen ist ein unerträglicher Zustand, der die Pandemie nur verlängern wird. Und auch wenn bei uns die Verbreitung des Virus abklingt, können woanders neue Mutationen entstehen, die die Pandemiebekämpfung vor neue Herausforderungen stellen und schließlich auch uns wieder treffen wird.

Die deutsche Regierung muss 175 Millionen versprochene Impfdosen jetzt an Länder abgeben

Wie stehe ich also zu den Booster-Impfungen? Werde ich mir die Auffrischung holen, sobald ich für sie in Frage komme? 

Ja, ich werde mich weiter gegen COVID-19 impfen lassen, doch zeitgleich zur lokalen Impfkampagne muss sich die deutsche Regierung endlich dafür einsetzen, dass Menschen überall auf der Welt Zugang zu den lebensrettenden Impfdosen bekommen. Eine unrealistische Forderung? Überhaupt nicht! Es gibt ganz konkrete Schritte, die die Regierung bereits jetzt unternehmen kann. 

So wurden beispielsweise deutlich mehr Impfdosen gekauft als in Deutschland überhaupt verimpft werden. Das hat schon jetzt dazu geführt, dass Impfdosen in Regalen schlecht werden und letztlich entsorgt werden müssen. Die Impfdosis, die woanders also Leben retten könnte, landet bei uns im Mülleimer.

Eigentlich gab es hier eine gute Nachricht: So hatte die Bundesregierung bereits versprochen, 175 Millionen Impfdosen an andere Länder abzugeben – 100 Millionen sogar noch in diesem Jahr. Die schlechte Nachricht: Bisher ist noch nicht einmal die Hälfte davon ausgeliefert worden. Noch dramatischer: Die für Dezember versprochenen Dosen sollen jetzt erst im Januar und Februar abgegeben werden. Doch die Uhr tickt. Ich erwarte von der Regierung, dass sie alles daran setzt, ihr Versprechen einzulösen und die Impfdosen so schnell wie möglich abgibt, damit auch Ola endlich die Möglichkeit hat, sich gegen COVID-19 zu schützen. 

Deutschland muss die temporäre Aussetzung der Patentrechte auf COVID-19-Impfstoffe unterstützen

Und dann gibt es da noch ein ganz anderes Problem: Aktuell wird noch nicht genug Impfstoff produziert, um alle Menschen weltweit damit zu versorgen. Die Produktion der COVID-19-Impfstoffe muss also massiv ausgebaut und auf deutlich mehr Länder ausgeweitet werden. Studien zeigen, dass es beispielsweise in Südafrika, Ägypten, Tunesien und Marokko großes Potential gibt, sie dort herzustellen. 

Dafür müssen jedoch die Pharmaunternehmen ihr Wissen und ihre Technologie teilen – ein Schritt, zu dem sie trotz Einnahmen in Millionenhöhe nicht bereit sind. Unvorstellbar eigentlich, dass die Unternehmen der erfolgreichsten Impfstoffe – Pfizer, BioNTech und Moderna – zusammen pro Minute 65.000 US-Dollar (rund 57.000 Euro) verdienen. Sie schwimmen im Geld für ein Produkt, das die ganze Welt schützen sollte, es aber nicht tut. Hier erwarte ich von der Bundesregierung, dass sie das Mainzer Unternehmen BioNTech zur Kooperation bewegt! 

Auch Patente stellen eine deutliche Barriere bei der Ausweitung der Produktion dar. Mehr als 100 Staaten fordern daher mittlerweile, Patentrechte auf COVID-19-Impfstoffe vorübergehend auszusetzen und unterstützen dafür den sogenannten TRIPS-Waiver. Die zeitweilige Aussetzung der Patente würde die Preise für Impfstoffe reduzieren und vor Klagen durch die Pharmaindustrie schützen. Deutschland blockiert den Vorschlag als eines der wenigen Länder jedoch. Hier fordere ich von der Regierung ein Umdenken und ein klares Bekenntnis, Solidarität über Profite zu stellen! 

Deutschland hat sich mit vielen anderen Staaten das Ziel gesetzt, bis Juni 2022 sicherzustellen, dass in jedem Land weltweit eine Impfquote von 70 Prozent erreicht sein wird. Dazu muss das Land zu den oben genannten Punkten aktiv werden! Auch wenn ich mir meiner Privilegien immer schmerzlich bewusst sein werde, wenn ich mit Ola, Radhika und Hang rede, so weiß ich, dass es im Fall der Pandemiebekämpfung klare Lösungen gibt, die es jetzt auszuführen gilt. 

Ganz gleich, wie du zur COVID-19-Impfung stehst: Wenn auch du es wichtig findest, dass alle Menschen überall auf der Welt selbst entscheiden können, ob sie sich gegen den Virus schützen oder nicht, dann werde mit uns aktiv. 

*Namen zum Schutz der Personen geändert

Opinion

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Ein Beitrag von Nora Holz