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Miriam Schmid, 30 Jahre alt, lebt und arbeitet in Berlin. Seit vier Jahren ist sie Assistenzärztin für Anästhesie und Intensivmedizin.
Am 16. März wurde der “Ausnahmezustand” verkündet. Maßnahmen wurden bekanntgegeben. Alle elektiven* OPs und Untersuchungen wurden verschoben. Drei von sechs OP-Sälen sollten von nun an ruhen. Patient*innen wurden Stationen entlassen oder auf auf andere Stationen verlegt. Wir haben zwei Stationen für Corona-Fälle freigeräumt.
Am nächsten Tag sollte ich auf der Intensivstation aushelfen. Chirurg*innen und wir als Anästhesist*innen hatten auf einmal viel weniger zutun als sonst. Ich fuhr mit dem Fahrrad zur Arbeit und fragte mich, wann wohl die erste Welle an Corona-Fällen kommen würde. Wann es losgehen würde. Und ich fragte mich: Haben wir genug Schutzkleidung? Genug Masken? Genug Beatmungsgeräte? Ich hatte Angst. Ja, am Anfang hatte ich richtig Angst. Ich wusste nicht, was uns erwarten würde. Vor welchen Problemen wir stehen würden.
Ich stand in diesen Tagen zum ersten Mal vor einer Coronapatient*in, die bereits in einem kritischen Zustand war. Die Patientin war 51 Jahre alt, lag bereits im künstlichen Koma und ließ sich schlecht beatmen – und ich dachte: “Es kann wirklich jede*n treffen.” Wir mussten die Frau in die Berliner Charité verlegen. Ich weiß nicht, ob sie es überlebt hat.
Ich kann an zwei Händen abzählen, wie oft ich zuvor eine Patient*in in solch einem kritischen Zustand mit diesen Symptomen gesehen habe. Das Gefühl war beunruhigend. Aber dann verging die Angst und mein Realismus setzte ein. Ich beruhte mich auf mein medizinisches Wissen und meine Erfahrung. Ich wusste, dass es immer Ausnahmen gab. Dass es bei jeder Erkrankung und jedem Virus “Ausreißer” gibt. Dass es Einzelne schwerer treffen kann als es “normalerweise” der Fall ist. Ich besann mich darauf, was mein Job ist. Wofür wir als Ärzt*innen da sind, welche medizinischen Schritte unternommen werden müssen.
“Wir sind keine Held*innen”
Mein Freund erzählte mir vor ein paar Tagen, dass ein Luxushotel Übernachtungen an medizinisches Personal verlost. Ich fand das befremdlich und fühle mich nicht angesprochen. Wir sind keine Held*innen, wir machen nur unseren Job. In diesen Tagen habe ich sogar weniger zutun als sonst. Aber dieser Zustand ist tückisch. Er gibt dir mehr Zeit zum Nachdenken. Und es fühlt sich an wie die Ruhe vor dem Sturm. Keiner weiß, wann und wie es weitergeht. Wann und wie viele Coronapatient*innen wir in den nächsten Tagen, Wochen und Monaten haben werden.
“Wir stehen vor großen ethischen Fragen”
Dieses Warten stellt uns vor ein weiteres Problem, vor dem ich die größte Sorge habe – und das sind die Kollateralschäden.
Was ist, wenn wir in einem Jahr mehr Krebspatient*tinnen haben, die sich im Verdachtsfall vielleicht nicht mehr in eine Praxis begeben haben? Oder jenen, bei denen die OPs zu spät vollzogen wurden? Es gibt hier nicht nur Schwarz und Weiß, es gibt auch viel Grau.
Die leitenden Ärzt*innen müssen entscheiden, welche OPs sich verschieben lassen – und wie lange. Doch keiner weiß, wie lange dieser Ausnahmezustand anhält. Muss einem Patienten die Gallenblase jetzt entfernt werden – oder kann das warten? Muss ein Tumor jetzt entfernt werden oder geht das auch noch in zwei, drei Monaten? Keiner weiß, wann der “Normalzustand” wieder eintritt. Wie lange die Patienten warten müssen. Ich möchte nicht in der Haut derer stecken, die das entscheiden müssen.
Hinzu kommt noch ein Dilemma: Die Situation ist ein großer finanzieller Verlust für Krankenhäuser. Wir arbeiten mit vollem Personal, aber derzeit steht die Hälfte der OP-Säle leer – und Operationen bringen das meiste Geld. Das ist eine Belastung für unser ohnehin schon belastetes Gesundheitssystem.
Wir werden erst hinterher wissen, ob es richtig und notwendig war, die OP-Säle schon jetzt freizuhalten. Wir werden erst hinterher wissen, ob wir die richtigen Maßnahmen ergriffen haben. Aber wir arbeiten jeden Tag daran, die richtigen Entscheidungen zu treffen, um erkrankte Menschen bestmöglich zu behandeln und zu versorgen.