Ich wurde in Kabul, Afghanistan, geboren. Als ich drei Jahre alt war, floh meine Familie nach Hamburg, Deutschland. Wäre ich nicht hierhergekommen, wäre meine Ausbildung – vier Jahre nach der Übernahme der Kontrolle durch die Taliban und dem Verbot der Schulbildung für Mädchen – abrupt beendet worden. Ich wäre in einem Kriegsgebiet aufgewachsen und meine Familie könnte zu den vielen Binnenvertriebenen gehören, die innerhalb des eigenen Landes Zuflucht vor Krieg und Gewalt suchen. 

Afghanistan glich in den letzten Tagen einem Dominospiel: Eine Stadt nach der anderen fiel an das Taliban Regime, welches bereits seit der Bekanntgabe des Abzugs der internationalen Truppen im Mai immer schneller das ganze Land zurückeroberten. 

Millionen Menschen leben in diesem Augenblick in Angst und Schrecken. Sie haben sich an den politischen Versprechungen, die ihnen gemacht wurden, orientiert und wurden nicht nur von der internationalen Gemeinschaft, sondern auch von ihrem eigenen Präsidenten im Stich gelassen. 

Die internationale Gemeinschaft ließ Afghanistan blindlings auf die humanitäre Katastrophe zusteuern

Ich habe diese Entwicklungen voller Sorge, Enttäuschung, aber auch Wut verfolgt. Wut und Beschämung auch auf die Bundesregierung und die internationale Gemeinschaft, die in den letzten Wochen und Monaten die zivile Bevölkerung blindlings auf diese humanitäre Katastrophe zusteuern ließen. Wer jetzt in einer offiziellen Position überrascht tut, der oder dem kann ich die Überraschung nicht abnehmen, denn seitens Afghanistan-Analyst*innen und Journalist*innen wurde genug gewarnt.  

Laut UN sind in diesem Moment 18,4 Millionen Afghan*innen dringend auf humanitäre Hilfe angewiesen. Um diese Zahl greifbar zu machen: Zahlenmäßig deckt sich das mit allen Einwohner*innen von Nordrhein-Westfalen und Bremen zusammen! 

Mehr als drei Millionen Menschen suchen Zuflucht vor Gewalt und Krieg in ihrem eigenen Land – davon sind 80 Prozent Frauen und Kinder. Sie alle verlassen ihre Heimatprovinzen, um Schutz vor den grundlosen Gewalttaten an der Zivilbevölkerung durch die Taliban zu suchen. Seit Wochen steigt ihre Anzahl, viele stranden in Kabul. 

Unsere lokalen Kolleg*innen dürfen keiner Gefahrensituation ausgesetzt werden

Unsere Kolleg*innen in Kabul werden die Menschen schnellstmöglich mit dem Nötigsten versorgen – etwa mit Wasser, Nahrung, Hygiene und Schutz. Dazu wollen wir zeitnah eine Bestandsaufnahme durchführen, um den tatsächlichen Bedarf zu ermitteln.

Die dynamische, sich ständig verändernde politische Situation stellt momentan die allergrößte Herausforderung für unsere Arbeit dar. Auf der einen Seite wollen wir Direkthilfe leisten und unsere Mitarbeitenden vor Ort, für die wir die Verantwortung tragen, weiter beschäftigen, um das Einkommen der Bauarbeiter*innen, der Konstrukteur*innen, Ingenieur*innen, Projekt-Manager*innen und dem Schulpersonal zu sichern. Sie alle müssen auch in diesen schweren Zeiten ihre Familien durchbringen. 

Auf der anderen Seite werden wir keine*n unserer lokalen Kolleg*innen bewusst einer Gefahrensituation aussetzen. Das können und wollen wir nicht verantworten. Deshalb heißt es in diesem Moment, in dem ich diesen Text tippe: Sicherstellen, dass es allen gut geht, in Kontakt bleiben und beobachten, wie sich die Lage in Kabul und den anderen Städten jetzt entwickelt. 

Was ich diese Tage zu berichten weiß, ist natürlich nur eine kleine Momentaufnahme aus den schockierenden Entwicklungen, die sich gerade in meinem Geburtsland abspielen. Tausende sind ganz akut von Verfolgung und Tod, von sexueller oder anderen Gewaltformen, von Hunger und der COVID-19-Pandemie bedroht. Solidarität ist jetzt entscheidend. 

Deswegen rufe ich auf: Informiere dich, informiere deine Community, unterschreibe Petitionen, spende Geld und zeige den Menschen in Afghanistan und der afghanischen Diaspora in Deutschland, dass sie nicht alleine sind, dass sie gesehen und gehört werden.  

Hila Limar ist seit elf Jahren Vorsitzende von Visions for Children. Der Verein arbeitet seit 15 Jahren im Bereich Bildung und humanitäre Hilfe in Afghanistan. Bisher hat Visions for Children erfolgreich elf Schulen unterstützt und mehr als 35.000 Menschen durch Nothilfe-Maßnahmen erreicht.  Du kannst diese Petition unterschreiben, damit die Bevölkerung Afghanistans weiterhin unterstützt wird. 

Opinion

Gerechtigkeit fordern

Gewalt, Krieg & Flucht: Die Situation in Afghanistan spitzt sich zu