Warum das wichtig ist
Alle 11 Sekunden wird ein Mädchen auf der Welt beschnitten, berichtet die Frauenrechtsorganisation Terres des Femmes. Das sind 8.000 Mädchen jeden Tag. Auch in der EU leben hunderttausende Mädchen, die weibliche Genitalverstümmelung (Femal Genital Mutilation, kurz FGM) erlitten haben. Werde hier mit uns aktiv, um die Rechte von Frauen und Mädchen zu schützen.

Beschnittene Frauen leben nicht nur in Nigeria, Somalia, Indonesien oder dem Irak. Auch in Berlin, Paris und Amsterdam sind Mädchen betroffen. Kurz gesagt: Weibliche Genitalverstümmelung (FGM) ist schon lange kein lokales Problem mehr – es hat eine globale Dimension. Doch warum nimmt diese Praktik, die gegen die Menschenrechte verstößt, kein Ende? 

Darüber haben wir im Interview mit Charlotte Weil, 30, gesprochen. Seit über vier Jahren befasst sie sich als Referentin bei der Frauenrechtsorganisation Terres Des Femmes mit weiblicher Genitalverstümmelung. “Frauenrechte und Feminismus waren schon seit meinem Studium meine Herzensthemen”, sagt Weil. Dass sie heute hauptberuflich Aktivistin für FGM ist, sei aber eher Zufall. Im Jahr 2011 machte sie ein Auslandssemester und Praktikum im Senegal, Westafrika, wo sie mit von FGM betroffenen Frauen in Kontakt kam. “Seitdem hat mich das Thema nicht mehr losgelassen.”

Seit wann gibt es die weibliche Genitalverstümmelung?

Die ersten Beweise stammen aus Ägypten, von etwa 2.000 vor Christus – ein Beleg dafür, dass FGM nicht per se etwas mit Religion zutun hat, obwohl sich der Mythos hartnäckig hält. 

Was sind die Hauptgründe, aus denen FGM praktiziert wird? 

Es gibt drei Bereiche, die entscheidend sind: die vermeintliche Tradition oder Kultur, die sexuelle Unterdrückung der Frau sowie die soziale Norm. 

Viele Communities, die FGM praktizieren, glauben, es sei ihre Tradition. Wie ein kultureller Wert, den sie schützen müssen. Sie denken, sie würden vergangene Generationen infrage stellen oder sogar hintergehen, wenn sie die Praktik nicht fortführen. 

Wer sich FGM widersetzt, widersetzt sich auch der sozialen Norm in der Gemeinschaft. Das Ergebnis: Die Frauen und Familien werden von der Gesellschaft ausgegrenzt. Frauen, die nicht beschnitten sind, finden keinen Mann, Mädchen können nicht verheiratet werden, was enorme soziale und zum Teil auch finanzielle Folgen für die Familie hat.

Ein weiterer entscheidender Grund ist die Unterdrückung der Sexualität der Frau. So soll Treue erzwungen und die “Jungfräulichkeit” bewahrt werden. Es ist ein Reinheitsideal, das mancherorts religiös begründet wird – oft aber eben auch nicht. 

Ist FGM reine Frauensache?

Ganz und gar nicht. Männer spielen eine ganz zentrale Rolle. Sie sind mitverantwortlich für die Praktik und deshalb ist ihr Beitrag zum Durchbrechen dieser auch so essentiell. Wir versuchen in unseren Programmen, Männer mit einzubeziehen und in ihrer Community Aufklärungsarbeit zu leisten. Denn meist ist es bei diesem Thema so, dass Männer besser mit Männern sprechen können und Frauen besser mit Frauen. Männer müssen wissen, dass eine nicht beschnittene Frau nicht „unrein“ ist und welche negativen Folgen die Praxis hat. Wenn sich dann ein Mann aus einer praktizierenden Community überzeugt hinstellt und sagt, dass er eine unbeschnittene Frau heiraten möchte, dann hat das einen immensen Effekt.

Wo wird FGM überall praktiziert?

FGM gibt es rund um den Globus. Besonders verbreitet ist die Praxis unter anderem in Somalia, Eritrea, Guinea und einigen weiteren afrikanischen Ländern, aber beispielsweise auch in Indonesien, dem Oman, Irak und Iran. Aber es werden auch Frauen in Europa, Süd- und Nordamerika beschnitten. Es ist also wahrscheinlich, dass jede*r von uns im Bekanntenkreis eine Frau hat, die betroffen ist oder ein Mädchen, das gefährdet ist. 

Werden also auch in Deutschland Mädchen beschnitten? 

Uns sind keine Fälle bekannt, bei denen Mädchen in Deutschland verstümmelt wurden. Das passiert entweder während eines Heimaturlaubs – meist in den Sommerferien – oder man sucht Beschneiderinnen aus dem Herkunftsland auf, die in anderen europäischen Städten leben. In Frankreich etwa gibt es Beschneiderinnen, da die Diaspora dort größer ist. Aber da die Diasporas in den verschiedenen europäischen Ländern miteinander in Kontakt stehen, wird zu den Zeremonien auch die Diaspora aus Deutschland eingeladen. 

Für Lehrer*innen, Sozialarbeiter*innen und Ärzt*innen bedeutet das, dass sie besonders wachsam sein müssen, wenn die Mädchen etwa erzählen, dass in den Sommerferien in der Heimat ein großes Fest stattfindet. 

Und was kann jede*r Einzelne von uns tun? 

Erst einmal ist es wichtig, zu verstehen, dass FGM kein Phänomen ist, das “ganz weit weg” stattfindet. Wir sollten wachsam sein und im Hinterkopf behalten, dass wir vielleicht eine Frau kennen, die beschnitten ist – es könnte unsere Nachbarin sein, eine Kommilitonin in der Uni, die Klassenkameradin der Tochter oder eine Arbeitskollegin. 

Ich bin absolut überzeugt davon, dass Aufklärung der Schlüssel ist. In betroffenen Communitys als auch in der Zivilgesellschaft. Wir müssen für dieses Thema sensibilisieren. Wenn wir das Gefühl haben, mit einer Betroffenen zu sprechen, sollten wir sehr behutsam vorgehen und ihr Wording übernehmen. 

Man sollte keine Aktionen im Alleingang unternehmen, aber im Zweifel kann es hilfreich sein, eine Beratungsstelle zu kontaktieren. In Berlin gibt es etwa das “Desert Flower Center Waldfriede”, bei dem Betroffene Hilfsangebote finden. 

Und zuletzt: Was kann die Politik tun, um diesem Problem zu begegnen? 

Deutschland reagiert oft erst, wenn es uns betrifft – so auch in diesem Fall. In den vergangenen fünf Jahren sind mehr Menschen aus Ländern wie Eritrea, Somalia und dem Irak zu uns gekommen – alles Länder, in denen FGM verbreitet ist. Und somit sind nun auch mehr Frauen und Mädchen hierzulande betroffen oder gefährdet. 

Mit Strafverfolgung, psychischer und medizinischer Behandlung der Betroffenen sowie medizinischen Eingriffen zur anatomischen Rekonstruktion begegnet Deutschland dem Problem. Am 6. Februar wurde auf EU-Ebene ein Strategieplan erlassen, an dem auch Terres de Femmes mitgearbeitet hat. Das Hilfssystem wurde verbessert – wenn es auch nach wie vor zu wenig auf FGM spezialisierte Beratungsstellen gibt –, doch der Bereich, der auf jeden Fall von Deutschland und der EU noch ausgebaut werden muss, ist die Prävention. Wir müssen viel mehr auf Aufklärungsarbeit setzen, um Frauen und Mädchen vor FGM zu bewahren. 

Editorial

Gerechtigkeit fordern

Weibliche Genitalverstümmelung geht uns alle an

Ein Beitrag von Jana Sepehr