Kriege, Seenotrettung, Zwangsprostitution: Wie es ist, als Notarzt für "Ärzte ohne Grenzen" im Einsatz zu sein

Autor:
Jana Sepehr

©Anna Surinyach/Ärzte ohne Grenzen

Tankred Stöbe, 49, arbeitet als Rettungsmediziner in Berlin. Seit 2002 war er mehr als ein dutzend Mal ehrenamtlich für die Hilfsorganisation “Ärzte ohne Grenzen” im Einsatz. Die letzten drei Jahre war er Mitglied des internationalen Vorstandes von “Médecins sans frontières”.




"Wenn ich es schaffe, ein Leben zu retten, dann ist schon viel gewonnen."

Seit 16 Jahren reist du für “Ärzte ohne Grenzen” in Krisengebiete: 2013 hast du Menschen nach dem Wirbelsturm auf den Philippinen versorgt, 2015 warst du während des Ebola-Ausbruchs im westafrikanischen Sierra Leone. Zurzeit bist du im Gazastreifen, wo ein gewaltsamer Konflikt zwischen Palästina und Israel seit Jahrzehnten das Leben vieler Menschen gefährdet. Was war bisher der bewegendste Einsatz für dich?

Bei jedem Einsatz gibt es Geschichten, die mich besonders betroffen machen – auch in Gaza. Vor 13 Jahren war ich schon einmal hier. Noch immer erinnere ich mich an die Begegnung mit einem 12-jährigen Mädchen namens Khulut, die seit zwei Jahren kein Wort mehr sprach. Ihre Mutter war an Brustkrebs verstorben, ihr Vater kam bei der zweiten Intifada ums Leben. Das psychische Leid des Mädchens war unvorstellbar groß. Anfangs wussten wir nicht, ob eine organische Ursache gab, weshalb sie nicht sprach. Doch dann fanden wir heraus, dass ihre Sprachlosigkeit eine psychosomatische Reaktion auf ihren Kummer war.

Wie fühlt es sich an, in ein Krisengebiet zu reisen und nicht zu wissen, was einen erwartet?

Ich freue mich jedes Mal, wenn ich wieder losziehen kann. Ich weiß, es warten wichtige humanitäre Herausforderungen auf mich, ich werde als Arzt stärker gefordert als zu Hause, ich muss unter schwierigen Bedingungen arbeiten und dem permanenten Stress standhalten. In jedem Projekt passieren Dinge, bei denen ich an meine Grenzen stoße. Bevor es losgeht, fragt mich mein Vater oft: „Warum musst du denn dorthin?“ Ich antworte dann: „Ich muss nicht, ich darf.“ Und genau so fühlt es sich an.

Gibt es auch Situationen, die dir Angst machen?

Angst nicht, aber es gibt Situationen, die mir Respekt einflössen. Letztes Jahr im Jemen behandelten wir Patienten mit Kriegsverletzungen, Mangelernährung und Cholera. Am ersten Abend eskalierte die Situation in der Klinik. Es gab eine Schießerei. Wir waren gerade dabei, einen Patienten wiederzubeleben. Dann mussten wir entscheiden: Machen wir weiter oder bringen wir uns selbst in Sicherheit, weil im Nebenraum geschossen wird? Zum Glück ist uns nichts passiert. Normalerweise hätten wir das Krankenhaus danach verlassen und unsere Arbeit abbrechen müssen. Aber in der Aufarbeitung dieses schweren Sicherheitszwischenfalls kam heraus, dass die Ursache ein individueller Racheakt war und kein geplanter Anschlag auf das Krankenhaus oder die Organisation, so konnten wir unseren Einsatz fortsetzen. Solche Situationen zeigen, es gibt keine perfekte Vorbereitung. Es geht darum, für jede Situation in dem Moment die beste Lösung zu finden. Bisher kam ich immer unbeschadet zurück – ohne Entführung oder ernsthafte Verletzungen. Und so habe ich noch immer das Gefühl, dass die Chance, bereichert zurückzukehren, größer ist, als die möglichen Risiken.

"Wir Helfer sind privilegiert. Wenn ich zurückkehre, genieße ich die Freiheiten, abends ausgehen zu können, ohne Angst haben zu müssen."

2015 entschied sich ”Ärzte ohne Grenzen“, mit einem Rettungsboot aufs Mittelmeer zu fahren und dort Flüchtlinge zu retten. Wie kam es zu der Entscheidung?

Nirgendwo auf der Welt sterben mehr Menschen auf der Flucht, als auf dem Mittelmeer von Libyen nach Europa. Wir wollten nicht akzeptieren, dass das Mittelmeer Jahr für Jahr zum Massengrab wird. Eigentlich ist es die Aufgabe europäischer Politiker, das zu verhindern. Doch wir erkannten damals, dass die staatliche Hilfe unzureichend und vielleicht auch nicht genug gewollt war. Das politische Versagen hat uns gezwungen, aktiv zu werden. Denn jeder existentiell bedrohte Mensch sollte das Recht haben, um Asyl bitten zu können. Und für viele Afrikaner gibt es nur diesen einen, gefährlichen Weg übers Mittelmeer, um das zu tun. Für mich war es eine neue Herausforderung. Ich wusste nicht einmal, ob ich seetauglich bin (lacht).

Wie ist die Stimmung bei einem solchen Rettungsmanöver?

Es ist jedes mal eine konzentrierte und angespannte Situation. Erst sehen wir nur einen kleinen Punkt am Horizont. Wenn die Boote näher kommen, sehen wir die Körper der Menschen und dann ihre Gesichter, ihre Angst, ihre Hoffnung, das ungläubige Staunen, gerettet zu werden. Ich erinnere mich an einen Jungen aus Somalia, der es leider nicht geschafft hat. Er wurde auf seiner Flucht gefoltert, hatte eine Lungenentzündung und ist noch an Bord verstorben.

Libyen ist derzeit der Brennpunkt, wenn es um Flüchtlinge aus Afrika geht, die nach Europa wollen. Du warst selbst drei Mal dort. Wie ist die Situation vor Ort?

Libyen ist ein ”Failed State“, hier gibt es keine Rechte und keine Sicherheit mehr. Viele europäische Politiker versuchen jetzt mit aller Kraft zu unterbinden, dass Flüchtlinge von Libyen aus nach Europa übersetzen. Deshalb fängt nun die EU-finanzierte libysche Küstenwache viele Boote ab und bringt die Flüchtlinge zurück nach Libyen. Dort werden sie in Lager gebracht und illegal festgehalten – für Tage, Wochen, manchmal für Monate. Wie viele Menschen dort unter unwürdigen Bedingungen festgehalten werden, ist unmöglich herauszufinden, das ist ein dynamischer Prozess.

Du warst in einigen dieser Lager und bist dort einer Gruppe Frauen aus Nigeria begegnet. Was haben die Frauen dir erzählt?

Sie sagten, dass sie eine große Gruppe mit rund 120 Frauen waren, als sie Nigeria verließen. Sie wurden angelockt und ein besseres Leben in Europa versprochen. Als sie in Libyen ankamen und dann von der Küstenwache auf dem Meer aufgegriffen und in das Lager gebracht wurden, waren es nur noch 40 Frauen. Die Mehrzahl von ihnen litt an Krätze, eine infektiöse Hautentzündung, die mit den katastrophalen hygienischen Bedingungen dort zusammenhängt. Viele Frauen berichteten von ”diffusen Körperschmerzen“. Aus der Traumaforschung wissen wir, dass dies oft ein Hinweis ist auf Misshandlung, Folter oder Vergewaltigung. Keine von ihnen wollte mehr nach Europa, sie wollten nur noch nach Hause. Doch sie wussten auch, dass sie zusammen bleiben müssen, um nicht etwa Opfer von Zwangsprostitution zu werden. Vergewaltigung, Zwangsarbeit und -prostitution sind in Libyen an der Tagesordnung.

„2015 waren wir Helden, obwohl wir es gar nicht sein wollten“, sagtest du einst bei einem Vortrag. Wer seid ihr heute und wie erlebst du die öffentliche Stimmung in der Gesellschaft gegenüber Flüchtlingen und Helfern?

Ich erinnere mich noch gut an die euphorische Willkommenskultur im Jahr 2015. Doch während diese Stimmung abebbte, wurden die Stimmen gegen Migranten und Flüchtlinge immer hörbarer. Fast bizarr: Während jedes Jahr die Anzahl der Geflüchteten, die Europa
erreichen, dramatisch abnimmt, wir die öffentliche Auseinandersetzung darüber immer hysterischer. Heute wird humanitäre Hilfe für Menschen auf der Flucht immer stärker behindert. Die Kriminalisierung – erst der Geflüchteten, dann auch der zivilen Seenotrettung – macht mich betroffen. Vergessen wir nicht, kein Mensch flieht freiwillig.

"Humanitäre Hilfe ist immer ein Tropfen auf den heißen Stein, manchmal sind es auch zwei oder drei Tropfen."

In Europa scheinen einige zu vergessen, dass diese Menschen vor akuten Kriegen und Konflikten fliehen, vor Folter und bitterer Armut. Mehr als die Hälfte aller Geflüchteten weltweit kommen aus Afghanistan, Syrien und dem Südsudan, alles drei Länder mit akuten Konflikten. Es ist unsere Pflicht, immer wieder dagegen anzudiskutieren, den Dialog zu suchen und den Geflüchteten eine rettende Hand zu reichen.