Es waren dramatische Bilder, die am 15. August 2021 um die Welt gingen: Nachdem sie bereits alle Provinzhauptstädte eingenommen hatten, besetzten die Taliban den Präsidentenpalast in Kabul. Der afghanische Präsident Aschraf Ghani floh ins Ausland, die ersten Menschen wurden evakuiert. Einen Tag später brach das Chaos komplett aus, Einheimische versuchten, aus dem Land zu fliehen, die Zahl der Toten stieg schnell an. Länder rund um die Welt stoppten die Gelder zur Unterstützung Afghanistans.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bezeichnete die Situation als “menschliche Tragödie” und machte Deutschland für das Geschehen in Kabul mitverantwortlich. Mehr als 123.000 Menschen wurden außer Landes geflogen. Laut Außenministerin Annalena Baerbock wurden 21.000 Afghan*innen nach Deutschland gebracht, viele weitere Menschen konnten noch nicht evakuiert werden. Baerbock bekundete ihr Mitgefühl mit den Afghaninnen, hat sich jedoch nicht weiter zu den Menschenrechtsverletzungen gegenüber der Frauen und Mädchen positioniert. Zwar hat sie in Reden ihre Unterstützung versprochen, jedoch noch keine Taten folgen lassen. 

Ein Jahr später, pünktlich zum ersten Jahrestag der Machtübernahme der Taliban könnte die Situation in Afghanistan kaum schlimmer sein: Mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist auf humanitäre Hilfe angewiesen, 97 Prozent der Menschen sind von finanzieller Armut bedroht. Jedes zweite Kind unter fünf Jahren ist unterernährt, vier Millionen Kinder gehen nicht zur Schule; über die Hälfte davon sind Mädchen. Eines von drei Mädchen wird verheiratet, bevor es das 18. Lebensjahr erreicht. 

Die internationale Gemeinschaft sieht sich für den katastrophalen Zustand in dem Land nicht verantwortlich, obgleich sie jahrzehntelang eine Verbesserung der Lebensumstände für Afghan*innen versprochen hat. Stattdessen hat sich die Lage nur noch verschlimmert, die Regierung besaß schon lange keine Legitimität mehr und die Grundbedürfnisse der Bürger*innen wurde nicht gedeckt. Mit dem Abziehen der Truppen und dem Einfrieren von Geldern nach der Machtübernahme entzieht sich die internationale Gemeinschaft jeglicher Verantwortung. 

Innerhalb eines Jahres durchlebte die Bevölkerung Afghanistans drastische Veränderungen, die von der Machtübernahme der Taliban, über die Einschränkung von Menschenrechten, dem Verlust internationaler Gelder bis hin zu einer wirtschaftlichen Krise, einem Erdbeben und Hungersnot. 

Hier die wichtigsten Fakten, die du wissen musst und was du jetzt tun kannst:

Frauen und Mädchen leiden am meisten

Die Rechte von Frauen und Mädchen wurden nach der Machtübernahme der Taliban stark eingeschränkt. Nachdem das Ministerium für Frauenangelegenheiten aufgelöst wurde, wurden jegliche in Ministerien arbeitende Frauen aufgefordert, zu Hause zu bleiben. Anwältinnen, Richterinnen und Staatsanwältinnen bekamen Berufsverbot und mussten für ihre eigene Sicherheit untertauchen, denn sie befürchteten Attacken von Männern, die sie wegen häuslicher und geschlechtsspezifischer Gewalt verurteilt hatten und die von den Taliban freigelassen wurden. Institutionelle und rechtliche Unterstützung für Frauen wurde schrittweise abgeschafft, sodass sich das Risiko auf Gewalt gegen Frauen weiter erhöhte. 

Der Besuch von Schulen wurde Mädchen ab der 7. Klasse in weiten Teilen des Landes unmöglich gemacht. Durch den Abzug von Entwicklungszusammenarbeit und humanitärer Hilfe, die vorher rund 70 Prozent des Geldes für das Bildungswesen ausgemacht hat, werden noch weniger Mädchen die Grundschule abschließen. Hila Limar, geschäftsführende Vorständin von Visions for Children e.V. macht deutlich: “Mädchen aus den Schulen auszuschließen wird gravierende Folgen haben – für jede Einzelne, aber auch für ganz Afghanistan. Die Bildung von Mädchen und Frauen hat erhebliche Vorteile für die Gesundheit und den ökonomischen Fortschritt eines Landes.” 

Inzwischen dürfen Frauen längere Taxifahrten und ein Flugzeug nicht ohne männliche Begleitung an- oder betreten. Freizeitparks dürfen nur zu bestimmten Zeiten und nach Geschlechtern getrennt besucht werden. Taliban-Chef Hibatullah Achundsada erklärte, dass alle Frauen in der Öffentlichkeit mit Ausnahme der Augen auch ihr Gesicht verhüllen sollen und zukünftig mindestens den Hijab zu tragen haben. Er empfahl Afghaninnen, eine Burka zu nutzen, bei der es sich um eine Ganzkörperbedeckung mit einer Art Gitter aus Stoff für den Augenbereich handelt. Diese Bekleidung zu tragen, gelte als “traditionell und respektvoll”. 

Zudem werden Die Rechte der LGBTQIA+ Community nach der Scharia nicht anerkannt, sodass gleichgeschlechtliche Beziehungen unter Strafe gestellt werden. 

Weitere Krisen verschärfen die Situation im Land

Das Ausbleiben ausländischer Finanzhilfen und die internationalen Sanktionen gegen die Taliban haben zu einer tiefen Wirtschaftskrise in Afghanistan geführt. Die Dürre und die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie verschärfen die Situation zusätzlich. Nach Angaben der Vereinten Nationen (UN) werden etwa 23 Millionen Menschen von Ernährungsunsicherheit und Hunger betroffen sein. Aus dieser Not heraus sehen sich Eltern dazu gezwungen, ihre eigenen Kinder zu verkaufen, um das Überleben der gesamten Familie für die nächsten Monate zu sichern. 

Am 21. Juni wurde Afghanistan in der Grenzregion zu Pakistan zudem von einem heftigen Erdbeben erschüttert. Mehr als 1.000 Menschen sind gestorben, mindestens 1.500 wurden verletzt. Die Rettungsarbeiten wurden durch den mangelhaften Zugang zu abgelegenen Bergregionen erschwert. 

Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe wurden größtenteils eingefroren

Mehr als 75 Prozent vom afghanischen Haushalt bestand zuvor aus Geldern ausländischer Entwicklungszusammenarbeit. Davon wurden beispielsweise Krankenhauspersonal, die Armee, Beamt*innen und Schulen bezahlt. Doch diese Gelder wurden eingefroren und weil Länder befürchten, dass sie der Unterstützung der Taliban verdächtigt werden könnten, sagen sie Afghanistan derzeit keine Hilfe zu.

Im März wurde von den Vereinten Nationen (UN), Deutschland, Großbritannien und Katar eine Geberkonferenz veranstaltet, bei der die UN 4,4 Milliarden US-Dollar (rund vier Milliarden Euro) an Soforthilfe für die Bevölkerung in Afghanistan forderte. Unter anderem hat Deutschland zusätzliche 200 Millionen Euro für humanitäre Hilfe versprochen. Trotz der Zusagen von insgesamt 41 Ländern sind nur rund 2,44 Milliarden US-Dollar (rund 2,39 Milliarden Euro) zusammengekommen. Derzeit gibt es auch keine konkrete Strategie, wie die Finanzlücke gefüllt werden kann, denn die Lage im Land verschlechtert sich permanent und die zugesagten Gelder reichen nicht aus.

Derzeit werden der Abzug der Bundeswehr und die Evakuierung von einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss aufgearbeitet. In den kommenden Monaten soll geklärt werden, welche Fehler es gab und welche Konsequenzen es daraus geben soll. Unter anderem soll bei dem Ausschuss herausgefunden werden, ob es Fehleinschätzungen der Behörden zur Sicherheitslage in Afghanistan gab. 

Was du jetzt tun kannst

Die NGOs in Afghanistan rufen uns auf, zu handeln. Viele internationale und lokale Organisationen und Vereine bieten weiterhin ihre Unterstützung für die Bevölkerung an, brauchen jedoch Spenden, um diese zu verwirklichen. So kannst du beispielsweise Geld an die Welthungerhilfe oder Visions for Children senden. Letztere haben mit uns an einer Petition gearbeitet, die die Bundesregierung dazu auffordert, Verantwortung für die humanitäre Krise in Afghanistan zu übernehmen und Mittel zur Unterstützung bereitzustellen. Du kannst aktiv werden, indem du die Petition hier unterschreibst

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Gerechtigkeit fordern

1 Jahr nach der Machtübernahme der Taliban: So dramatisch ist die Lage in Afghanistan

Ein Beitrag von Nora Holz