Dieser Kinderarzt stellt den Zugang zu Impfstoffen inmitten des Krieges in der Ukraine sicher

Autor: Jacky Habib

Zen Lefort for Global Citizen

Schätzungsweise jede*r vierte Einwohner*in ist seit der Invasion Russlands in die Ukraine am 24. Februar vertrieben worden und hat damit die größte Geflüchtetenkrise in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst. 

Die Vertreibung von mehr als elf Millionen Menschen bringt erhöhte Gesundheitsrisiken mit sich, einschließlich der möglichen Ansteckung mit Infektionskrankheiten.

Yevgenii Grechukha, ein Kinderarzt mit Spezialisierung auf Immunisierung, arbeitet für die Weltgesundheitsorganisation (WHO) als nationaler Fachbeauftragter für durch Impfung vermeidbare Krankheiten und Immunisierung. Er erklärt, dass Faktoren wie eine engere und intensivere soziale Durchmischung, schlechte Lebensbedingungen in Unterkünften und ein begrenzter Zugang zu Wasser, sanitären Einrichtungen und Hygiene eine Rolle bei diesen erhöhten Risiken spielen.

"Die Wetterbedingungen und der physische Stress erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Menschen mit Infektionskrankheiten anstecken", sagt Grechukha gegenüber Global Citizen aus Truskavets in der Westukraine, nahe der polnischen Grenze. 

Im Hintergrund sind während unseres Gesprächs mit Yevgenii Grechukha Alarmsignale der ukrainischen Luftwaffe zu hören, die auf einen möglichen Luftangriff oder Artilleriebeschuss hinweisen. Sie können zwischen zehn Minuten und Stunden dauern und gehen auch mitten in der Nacht an, um die Menschen aufzufordern, Schutz zu suchen. 

Yevgenii Grechukha, a pediatrician with a specialization in immunization, works for the World Health Organization (WHO) as a national professional officer for vaccine preventable diseases and immunization.
Image: Zen Lefort for Global Citizen

Für Grechukha bedeutet dies, dass er in den Keller des Hotels umziehen muss, in dem er untergebracht ist. "Es gibt keine Nacht, keinen Tag ohne die Angriffe und Alarmglocken", sagt er. "Das ist jetzt unsere Realität."

Ein erhöhtes Risiko von COVID-19-Ausbrüchen

Da sich die Prioritäten der Menschen seit Beginn des Krieges verschoben haben, steht der Schutz vor dem Coronavirus nicht unbedingt an erster Stelle, was zu weiteren COVID-19-Ausbrüchen führen könnte. "Das Virus wird die Situation einfach ausnutzen und sich viel zu stark ausbreiten", sagt Grechukha. "Ich persönlich habe Angst, dass es zu einem sehr großen Problem wird."

Angesichts der kritischen Engpässe in den Gesundheitseinrichtungen – von lebensrettenden Medikamenten bis hin zu Sauerstoff, der laut WHO "gefährlich knapp" ist – ist Grechukha besorgt, dass ein möglicher Ausbruch der Krankheit das ohnehin schon schwache Gesundheitssystem der Ukraine weiter zerstören würde.

Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern hat die Ukraine eine niedrige Impfrate. Schätzungsweise 36 Prozent der ukrainischen Bevölkerung sind vollständig gegen COVID-19 geimpft, während es in Polen etwas mehr als 71 Prozent waren (Stand: 25.4.2022). Nach Angaben von Grechukha gab es jedoch vor Ausbruch des Konflikts eine stetige Zunahme der Impfungen, bei der sich täglich 50.000 Menschen im Land impfen ließen.

Diese Zahl ist nun drastisch gesunken und liegt derzeit bei weniger als 9.000 Impfungen pro Tag – zum Teil, weil der Zugang zu Impfstoffen begrenzt ist.

Zu Beginn dieses Jahres wurden COVID-19-Impfstoffe über drei Kanäle verabreicht: in Gesundheitseinrichtungen, durch mobile Teams und in kommunalen Impfzentren – die beiden letzteren Dienste werden aufgrund des Krieges inzwischen nicht mehr angeboten. 

Darüber hinaus ist die Zahl der COVID-19-Tests zurückgegangen, was laut Grechukha eine hohe Wahrscheinlichkeit für eine "signifikante unentdeckte Übertragung" des Virus bedeutet.

A medic prepares to administer a dose of an AstraZeneca COVID-19 vaccine at a military base in Kramatorsk, Ukraine, March 2, 2021.
Image: Evgeniy Maloletka/AP

Vor der Invasion besuchte Grechukha die COVID-19-Testzentren, um die Impfstofflagerung und -ausrüstung zu kontrollieren und kümmerte sich um impfstoffbezogene Fragen, einschließlich der Zusammenarbeit mit dem Gesundheitspersonal, um auf unerwünschte Reaktionen bei Patient*innen zu reagieren. Gemeinsam mit seinem WHO-Team, das sich mit durch Impfstoffe vermeidbaren Krankheiten befasst, arbeitete Grechukha auch an sicheren Entsorgungsstrategien von impfstoffbezogenen Abfällen wie Spritzen.

Da viele Abfallentsorgungsunternehmen in den vom Krieg betroffenen Regionen nicht mehr tätig sind, arbeitet der Arzt nun daran, Wege zu finden, wie die Gesundheitseinrichtungen ihren Impfstoffabfall sicher entsorgen können. Außerdem sammelt er die neuesten Informationen über COVID-19-Impfungen und -Empfehlungen und erstellt Materialien in englischer und ukrainischer Sprache für das Gesundheitspersonal und die breite Öffentlichkeit. 

Polio kehrt als Bedrohung der öffentlichen Gesundheit zurück

Im Oktober 2021 wurde in der Ukraine Poliomyelitis (Kinderlähmung) festgestellt, was auf jahrelang niedrige Impfraten zurückzuführen ist. Polio, eine durch ein Virus verursachte Infektionskrankheit, die das Nervensystem angreift, kann zu lebenslangen Lähmungen und sogar zum Tod führen und betrifft vor allem Kinder unter 5 Jahren.

Polio ist zwar nicht heilbar, kann aber durch die Polio-Impfung verhindert werden, die ein Kind lebenslang schützen kann. Nach dem Wiederauftreten der Kinderlähmung in der Ukraine war für dieses Jahr eine Impfkampagne geplant, in deren erster Phase 140.000 Kinder geimpft werden sollten.

Am 1. Februar startete die Kampagne, wurde jedoch durch den Angriff der russischen Streitkräfte auf das Land am 24. Februar gestoppt, da es für das Gesundheitspersonal fast unmöglich war, sicher zu den Kindern zu gelangen, um die Impfungen zu verabreichen. 

Nach Angaben von UNICEF wurden in den ersten Wochen der Kampagne nur 40.000 Kinder erreicht, so dass weitere 100.000 Kinder nicht gegen Polio geimpft wurden.

"Während der COVID-19 [-Pandemie] war es natürlich schwer [für uns, gesundheitsbezogene Arbeit zu leisten]. Und dann kam noch der Ausbruch der Kinderlähmung hinzu – das war wirklich hart. Jetzt ist es die Invasion im großen Stil. Das ist ungeheuer schwer, aber unser Team arbeitet weiter, denn das ist unsere Pflicht", sagt Grechukha.

Störungen der Telekommunikation haben Auswirkungen auf die ukrainische Plattform für elektronische Gesundheitsdienste

Currently based out of a hotel in Truskavets, Yevgenii Grechukha works on his computer, communicating with teams across the country who have limited access to the internet and phone lines.
Image: Zen Lefort for Global Citizen

Grechukha war zuvor in der Hauptstadt Kiew stationiert, wurde aber aus Sicherheitsgründen mit einigen Kolleg*innen nach Truskavets verlegt. Derzeit arbeitet er von einem Hotel aus und kommuniziert so gut wie möglich mit den Teams im ganzen Land, die nur begrenzten Zugang zum Internet und zu Telefonleitungen haben.

Russland hat Telekommunikationsstationen und Mobilfunkmasten in der Ukraine angegriffen, um den Zugang zu Informationen zu zerstören. Die Unterbrechung der Konnektivität hat die Fähigkeit des Gesundheitspersonals beeinträchtigt, auf wichtige Gesundheitsplattformen zuzugreifen.

2016 entwickelte der nationale Gesundheitsdienst der Ukraine ein E-Health-Portal zur Erfassung aller Patient*innendaten, einschließlich Impfdaten. Aufgrund der gestörten Internetverbindung wurde dies eingestellt.

"Vor dem 24. Februar erhielt [die WHO] ständig Aufzeichnungen und kannte die Situation und den Umfang der Impfungen bei Routineimpfungen und der Polio-Kampagne", erklärt Grechukha. "Nach dem 24. Februar wurde dieses System unterbrochen und der Zugang zu den Aufzeichnungen ist eingeschränkt. Es gibt ein klares Vorher und Nachher."

Während die Regierung an der Wiederherstellung dieser Plattform arbeitet, bemüht sich Grechukha, die Gesundheitseinrichtungen telefonisch zu erreichen, um diese Daten manuell abzufragen und sie entsprechend über Impfkampagnen zu informieren. 

Russische Angriffe auf ukrainische Gesundheitseinrichtungen

Etwa 1.000 Gesundheitseinrichtungen befinden sich in den Kriegsgebieten der Ukraine. Nach Angaben der WHO wurden seit der Invasion mehr als 100 Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen dokumentiert, darunter auch Angriffe auf Kinderkrankenhäuser und Entbindungsstationen. 

Diese Angriffe hatten 73 Todesopfer, 51 Verletzte, Gebäudeschäden und Unterbrechungen der Gesundheitsdienste, wie des Zugangs zu Medikamenten und Impfungen, zur Folge (Stand: 07.04.2022).

Medical staff rest in a basement used as a bomb shelter at the Okhmatdyt children's hospital in Kyiv, Ukraine, March 19, 2022.
Image: Felipe Dana/AP

Es wird davon ausgegangen, dass aufgrund des Krieges die Hälfte aller Apotheken in der Ukraine geschlossen ist, da die Mitarbeitenden des Gesundheitswesens entweder vertrieben wurden oder aufgrund der Zerstörung von Straßen und Brücken nicht zu ihren Arbeitsplätzen gelangen können. Die Versorgung mit Arzneimitteln ist unter diesen Umständen ein komplexes logistisches Problem.

Außerdem wurden die Impfstoffe vor dem Konflikt hauptsächlich mit dem Flugzeug geliefert. Da der ukrainische Luftraum jedoch gesperrt ist, ist dies keine Option mehr, so Grechukha. Die WHO und andere medizinische Organisationen sind dazu übergegangen, die Impfstoffe auf der Straße und mit der Bahn zu liefern, die immer noch in Betrieb ist.

"Das Gesundheitspersonal arbeitet weiter, trotz aller Herausforderungen, trotz der Explosionen und Schüsse. Sie arbeiten weiter und impfen", sagt Grechukha. "Ich bin sprachlos, wenn ich darüber nachdenke. Sie sind alle Held*innen."


Wenn wir in den letzten zwei Jahren etwas über die globale Gesundheit gelernt haben, dann ist es die Bedeutung von Impfstoffen. The World's Best Shot ist eine Reihe von Profilen, die die Geschichten von Impfstoffaktivist*innen auf der ganzen Welt erzählen.

Offenlegung: Diese Serie wurde mit Mitteln der Bill and Melinda Gates Foundation ermöglicht. Jeder Beitrag wurde in voller redaktioneller Unabhängigkeit erstellt.