“Impfungen schaden dem Menschen” — Aussagen wie diese haben wir alle wahrscheinlich schon einmal gelesen. Über kaum ein anderes Thema sind aktuell so viele Fehlinformationen im Umlauf wie über das Impfen. Die Folge: die Impfraten sind in den letzten Jahren weltweit immer weiter gesunken. Dies wiederum bewirkt, dass die Herdenimmunität zurückgeht und es in Ländern wie den USA und Italien mehrheitlich zu Ausbrüchen von vermeidbaren Krankheiten kommt.
Auch wenn Impfgegner die Schlagzeilen zieren, ist die Welt – wie so oft – weder schwarz noch weiß. Denn viele Menschen verstehen sich als “Impfzögerer”. Das bedeutet, dass sie sich und ihre Kinder impfen lassen würden, wenn sie zuverlässige Informationen aus vertrauenswürdigen Quellen erhalten.
Dr. Vinita Dubey, stellvertretende medizinische Leiterin des Gesundheitswesens im Toronto Public Health, arbeitet daran, die Impfraten in der ganzen Stadt zu erhöhen, was auch die Auseinandersetzung mit der Impfmüdigkeit beinhaltet. Global Citizen sprach mit Dr. Dubey über die Verbreitung von Impfskepsis, ihre Strategie dagegen und die Rolle von Ärzt*innen und der Öffentlichkeit bei der Förderung informierter Gespräche über Impfstoffe.
Als ich vor 20 Jahren Medizin studiert habe, gab es den Begriff “Impfskepsis” noch nicht. Es gab aber schon immer Impfgegner, die dank der sozialen Medien jetzt ein Megaphon haben und ihre Meinung laut kund tun, obwohl es sich nur um sehr wenige handelt. Aber dass es eine große Gruppe von Menschen, sogenannten Impfzögerern, gibt, die sich fragen, ob sie sich impfen lassen sollen — das ist neu.
Etwa drei Prozent der Bevölkerung sind gegen Impfungen. Aus Umfragen geht hervor, dass etwa 20 Prozent der Eltern in Kanada unschlüssig sind (Anmerkung der Redaktion: Laut Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung sind über 90 Prozent der Kinder in Deutschland geimpft, jedoch erhalten sie selten die zweite Impfung). Die Eltern haben durchaus vor, ihre Kinder impfen zu lassen. Sie wurden selbst geimpft und sind nicht dagegen, sagen aber Sätze wie: “Ich will nicht, dass mein Kind Autismus bekommt.” Sie haben genug Anti-Impf-Meinungen gehört, dass sie zu zweifeln beginnen. Dennoch werden sie sich wahrscheinlich dafür entscheiden, ihre Kinder impfen zu lassen — und genau darauf muss unser Fokus liegen.
Einige der Kinderimpfungen gibt es schon seit den 70er Jahren, aber die Fragen über sie haben sich verändert. Besonders interessant sind für Eltern Themen wie: “Wie steht es um Aluminium oder Formaldehyd? Wie kann ich zu 100 Prozent sicher sein, dass es kein Risiko gibt?” Wir versuchen, das Informationsbedürfnis dieser Eltern zu befriedigen.
Ich habe durch meine Recherche herausgefunden, dass dies die Taktik der Anti-Impf-Bewegung ist — die Eltern dazu aufzufordern, zu fragen, ob es kein Risiko gibt. Wir wissen, dass es Risiken in Verbindung mit Impfungen gibt, doch dass die Vorteile klar überwiegen. Nichts im Leben ist ohne Risiko – genauso wie Autofahren oder draußen vom Blitz getroffen werden. Es gibt überall Risiken, aber man muss sie abwägen.
Diese Eltern sind wirklich ernsthaft daran interessiert, Antworten zu erhalten, doch manchmal sind die Fehlinformationen schon so tief verwurzelt, dass es für sie schwierig sein kann, meine Antworten zu akzeptieren. Ich musste Gespräche abbrechen, wenn sich die Leute nicht respektvoll verhalten haben oder wenn sie immer wieder die gleiche Frage gestellt, aber eine andere Antwort erwartet haben.
Wir empfehlen Eltern, ihre Fragen ihrem Allgemeinarzt oder ihrer Allgemeinärztin zu stellen, denn zwischen ihnen besteht eine Vertrauensebene, die solch ein Gespräch erleichtert.
Einige Ärzt*innen sagen: “Es kamen Eltern herein und haben über Aluminium in Impfstoffen gesprochen und ich wusste nicht, was ich sagen sollte.” Das Gegenteil trifft ebenfalls zu. Eltern sagen: “Ich habe meine Ärzt*innen über eine Impfung ausgefragt, aber sie konnten mir keine richtige Antwort geben.” Aus diesem Grund haben wir diesen Leitfaden veröffentlicht.
Ein Teil des Problems liegt darin, dass Ärzt*innen von den Impfungen überzeugt sind, aber nicht wissen, wie sie solche Fragen beantworten sollen. Durch ihre Körpersprache bereiten sie den Eltern Unbehagen. Einige Ärzt*innen sagen: “Ich bin seit 20 Jahren tätig und musste mich nie mit diesen Fragen beschäftigen.” Es ist jedoch Teil ihrer Arbeit, auf solche Fragen vorbereitet zu sein, damit sie die Eltern beruhigen können.
Ich finde heraus, ob es Gesetze gibt, durch deren Vereinbarung Impfungen und Impfstoffauslieferung gefördert werden können, um die Herdenimmunität hochzuhalten. In Ontario, Kanada, gibt es ein Gesetz, das besagt, dass alle Schüler geimpft sein müssen, um zur Schule gehen zu können. Ansonsten brauchen sie eine gültige Ausnahmegenehmigung — ob aus medizinischen oder religiösen/philosophischen Gründen.
Die Ausnahmerate der Menschen in Toronto, die nicht geimpft sind, ist mit drei Prozent noch sehr gering. In den letzten Jahren gab es jedoch einen Anstieg von Impfverweigerern. Ab welchem Punkt ist diese Rate zu hoch? Wir haben inzwischen Inselgruppen in Schulen, die nicht geimpft wurden. Es kommen auch viele Reisende nach Toronto und bringen Masern mit. Wenn Masern in eine Schule mit einer niedrigen Herdenimmunität eingeführt werden, können sie sich schnell ausbreiten.
Eine Frau namens Safia kam zu einer Vorstandssitzung bei Toronto Public Health und hat ihre Geschichte erzählt. Sie ist in Somalia geboren und ihre Eltern zögerten ihre Impfungen heraus, weil sie skeptisch waren. Sie ist noch vor ihrem ersten Lebensjahr an Polio erkrankt und lebt jetzt, mittlerweile ist sie 40, in Toronto mit den Auswirkungen der Krankheit. Sie wurde operiert und benutzt eine Gehilfe.
Ihre Geschichte stand im Kontrast zu Impfgegnern, die beim gleichen Treffen sagten, dass Impfungen den Kindern schaden. Dieser Moment war sehr aufschlussreich — man wird mit beiden Seiten auf einmal konfrontiert. Die eine bringt ihre Haltung gegen Impfstoffe zum Ausdruck und warum sie ihnen nicht traut. Die andere Seite zeigt, wie das Leid, dass sie erlebt hat, hätte verhindert werden können.
Wir sollten dieses Gespräch nicht auf den sozialen Medien führen. Das Internet hat eine überaus negative Rolle bei der Verbreitung von Fehlinformationen gespielt. Die Menschen sollten vorsichtig sein mit dem, was sie in den sozialen Medien lesen und es nicht für bare Münze nehmen.
Wir alle können dazu beitragen, dass sich Menschen weiterhin impfen lassen. Gerade durch die COVID-19-Situation sind bereits viele Fehlinformationen im Umlauf, die zum Absinken der Impfmoral führen. Wir alle haben die Aufgabe, wissenschaftliche Erkenntnisse zu interpretieren und informierte Entscheidungen zu treffen. Es liegt nicht nur an den Mediziner*innen, die Meinung der Menschen zu ändern.
Dieses Interview wurde aus Gründen der Übersichtlichkeit leicht bearbeitet.
Hinweis: Diese Serie wurde mit Unterstützung der Bill and Melinda Gates Stiftung ermöglicht. Jeder der Beiträge ist redaktionell unabhängig erstellt worden.
Wenn uns das Jahr 2020 etwas über globale Gesundheit gelehrt hat, dann ist es die Bedeutung von Impfungen. Zusammen mit Global Citizen kannst du aktiv werden, damit wir gemeinsam die COVID-19-Pandemie besiegen.