Rassismus behindert die Impfbemühungen in Kanada

Autor: Jacky Habib

Yader Guzman for Global Citizen

Warum das wichtig ist
Die aktuelle Coronapandemie zeigt, dass marginalisierte Gruppen einem erhöhten Erkrankungsrisiko ausgesetzt sind. Das Global Goal 3 der Vereinten Nationen (UN) will sicherstellen, dass jeder Mensch weltweit Zugang zu einer grundlegenden Gesundheitsversorgung hat. Schließe dich uns hier an und werde zu diesem und anderen Themen aktiv. 

Anmerkung der Redaktion: Dieses Interview wurde vor dem 8. April 2021 geführt. Die Regierung entschied an diesem Tag, dass Erwachsene in Hotspots gegen COVID-19 geimpft werden. In der Zwischenzeit hat die Regierung im Zuge einer Anordnung für Bürger*innen, zu Hause zu bleiben, auch angekündigt, dass die Polizei jederzeit Menschen auf der Straße aufhalten könne. Dabei könnten sie gefragt werden, was der Grund dafür sei, dass sie sich draußen aufhielten. Wegen öffentlicher Bedenken, die Kontrollen hätten vor allem BIPoC (Black, Indigenous and People of Color) betroffen, wurden die Strafen später wieder zurückgezogen. Um die Verbreitung von COVID-19 einzudämmen, verabschiedete die Regierung am 28. April ein Programm für bezahlte Krankentage. Arbeitnehmer*innen, die krank sind, bekommen für bis zu drei Tage Lohn. 

Das Coronavirus hat die Ungleichheiten in Kanada verschärft, wie Gesundheitsdaten der gemeinnützigen Organisation ICES (Institute for Clinical Evaluative Sciences) zeigen. Demnach tritt die Mehrheit der COVID-19-Erkrankungen und Krankenhausaufenthalte in der Provinz Ontario in einkommensschwachen Vierteln auf, in denen vermehrt BIPoC leben. 

Die Daten des ICES zeigen auch den unverhältnismäßigen Zugang zu Impfungen im Land: Menschen in wohlhabenden Vierteln werden bis zu 400 Prozent häufiger geimpft als Personen in den einkommensschwachen Vorstädten der Metropolregion rund um die kanadische Hauptstadt Toronto. 

Dr. Krishana Sankar ist Molekular- und Zellbiologin und Mitglied des Kernteams vom regierungsunabhängigen “COVID-19 Resources Canada”. Dabei handelt es sich um ein Online-Hub für Forscher*innen aus unterschiedlichsten Fachrichtungen, Freiwillige und Interessierte, die die Corona-Maßnahmen in Kanada vorantreiben wollen. Sankar ist dort für die Wissenschaftskommunikation zuständig. Sie hilft, Gesundheitsinformationen für Kanadier*innen zugänglicher zu machen. 

Global Citizen sprach mit Sankar darüber, warum Gebiete, in denen viele BIPoC wohnen, am stärksten durch das Coronavirus gefährdet sind, wie die Regierung den aktuellen Anstieg der COVID-19-Fälle bekämpfen kann und warum sich jeder Mensch für Impfgerechtigkeit einsetzen sollte

Global Citizen: Sie haben sich öffentlich zur Reaktion der kanadischen Regierung auf COVID-19 geäußert und auch die Impfstrategie kritisiert. Können Sie das noch genauer ausführen? 

Dr. Krishana Sankar: Ich lebe in der Peel Region im Großraum Toronto. Dort wissen wir, dass sie eine der höchsten Erkrankungsraten aufweist und viele Menschen in intensivmedizinischer Behandlung sind. In unserer Bevölkerung gibt es einen hohen Anteil an Einwanderer*innen und das sind in der Regel auch diejenigen, die die Arbeit an vorderster Front leisten. 

Seit vergangenen November befinden wir uns in Lockdowns. Viele Menschen fühlen sind pandemie-müde. Es ist nicht so, dass die Lockdowns nicht funktionieren, aber es müssen andere Strategien in Gang gesetzt werden, damit die Pandemie-Bekämpfung effektiv wird. Damit meine ich beispielsweise bezahlte Krankheitstage oder die Impfung besonders gefährdeter Arbeiter*innen, insbesondere BIPoCs. Darum hat sich die Regierung nicht gekümmert. 

Was muss Ihrer Meinung nach passieren, damit die COVID-19-Fälle in den Hotspots von Ontario zurückgehen?

Wenn man einen Shutdown verordnet, dann muss man Unterstützungsmaßnahmen wie bezahlte Krankheitstage ausbauen. Viele Virusübertragungen finden unter den systemrelevanten Arbeiter*innen statt. Denn wenn sie krank sind, gehen sie weiter zur Arbeit, um ihre Existenz zu sichern. Das führt auch dazu, dass viele jüngere Menschen auf der Intensivstation landen und deshalb sterben. 

Die Menschen verdienen ihren Lebensunterhalt, indem sie ihr eigenes Leben und das von anderen aufs Spiel setzen müssen. Wir sollten die Menschen, die den Impfstoff benötigen, impfen und ihnen bezahlten Krankenurlaub geben. 

Wenn Sie von den systemrelevanten Arbeitskräften und Mitarbeiter*innen an der Front sprechen, wen meinen Sie da? 

Ich spreche insbesondere von Fabrikarbeiter*innen. Hier in der Greater Toronto Area (GTA) haben wir gesehen, dass in den Fabriken von Amazon viele Übertragungen stattfinden, wenn sich ein*e Arbeitnehmer*in mit COVID-19 ansteckt. 

Zudem gibt es hier viele Lkw-Fahrer*innen, die oft Grenzen überqueren, aber keinen Zugang zu Impfstoffen haben. Dann gibt es noch pflegende Angehörige, die inzwischen zwar geimpft werden, aber ursprünglich nicht priorisiert wurden.

Unsere Lehrer*innen zähle ich auch dazu. Wir haben ständig zwischen Homeschooling und Präsenzunterricht gewechselt. Die Regierung will, dass unsere Schulen offen bleiben, aber sie impft die Lehrkräfte nicht. Sie müssen die Menschen schützen, das liegt in ihrer Verantwortung. 

The Amazon Fullfillment site in Brampton, Ont. is seen on Friday, April 23, 2021. The distribution center was ordered closed by Peels officer of public health for having five confirmed cases of COVID-19 over a 14 day span.
The Amazon Fullfillment site in Brampton, Ont. is seen on Friday, April 23, 2021. The distribution center was ordered closed by Peels officer of public health for having five confirmed cases of COVID-19 over a 14 day span.
Image: Yader Guzman for Global Citizen

Was halten Sie vom Umgang der Regierung von Ontario mit dem Coronavirus? Und wie beurteilen sie die Impfstrategie, insbesondere im Hinblick auf die Risikogruppen? 

Der strukturelle medizinische Rassismus passiert, weil die Expert*innen der Regierung sagen, was getan werden muss, es dann aber nicht umgesetzt wird. 

Wir wissen, dass bestimmte Orte wie Fabriken Hotspots für das Coronavirus sind. Wir müssen uns auf diese Bereiche konzentrieren. Es ist äußerst frustrierend, dass die Aufmerksamkeit nicht darauf liegt. Die einzige Erklärung, die wir dafür haben, ist, dass es eine Folge des strukturellen Rassismus ist. 

Erzählen Sie uns, wie es mit COVID-19 Resources Canada angefangen hat. Welche Lücke füllen Sie, wenn es um die Kommunikation von COVID-19-Informationen geht? 

Wir haben eine Lücke geschlossen, denn bei uns können Forscher*innen Reagenzien für ihre COVID-19-Forschung finden. Expert*innen können hier zusammenkommen und Freiwillige haben die Möglichkeit mitzuhelfen. 

Die Plattform wurde größer, als die Produktion der Impfstoffe begann. Wir sahen eine große Lücke bei der Einführung der Impfungen, denn es gab kein begleitendes Aufklärungsprogramm für die Impfstoffe. 

Dr. Tara Moriarty startete im Januar eine nächtliche Online-Fragestunde zu den Impfstoffen, an der auch ich teilgenommen habe. Daran sind Expert*innen wie Wissenschaftler*innen, Pharmazeut*innen und Ärzt*innen beteiligt. So können die verschiedensten Fragen der Teilnehmer*innen beantwortet werden. 

Es ist einfach so, dass die COVID-19-Strategie in Kanada in jeder Phase dieser Pandemie erweitert werden musste, weil sie immer wieder Lücken aufwies. 

COVID-19 signage is posted in multiple languages outside the Brampton Soccer Centre vaccination site in Brampton, Ont. on April 23, 2021.
COVID-19 signage is posted in multiple languages outside the Brampton Soccer Centre vaccination site in Brampton, Ont. on April 23, 2021.
Image: Yader Guzman for Global Citizen

Sie haben auch dabei geholfen, Impfstoff-Informationsveranstaltungen in anderen Sprachen als Englisch zu organisieren. Warum sind diese Veranstaltungen notwendig und welchen Unterschied machen sie? 

Es gibt nicht nur in Englisch zu wenige Informationen über die Impfstoffe, sondern auch in anderen Sprachen. Menschen, die andere Sprachen sprechen, suchen sich diese Informationen oft in den sozialen Medien. Doch dort fehlt es an verlässlichen Informationen über die Coronavirus-Impfstoffe. 

Wir wollten die Informationen in verschiedenen Sprachen verbreiten und haben deshalb einige Impfstoff-Fragerunden mit mehrsprachigen Expert*innen in der südasiatischen Gemeinschaft durchgeführt. Wir planen Weitere – auch eine Runde auf Polnisch. Zudem haben wir Fragerunden auf Französisch veranstaltet. Denn wir wissen, dass besonders in einigen Gegenden in Quebec Falschinformationen über das Virus im Umlauf sind. 

Es wird viel darüber gesprochen, dass es unter BIPoC mehr Impfgegner*innen gibt. Ist Ihnen das auch aufgefallen? 

Das Misstrauen in einigen Bevölkerungsgruppen ist nicht einfach so entstanden. Die Menschen haben Gründe für ihre Bedenken. Einige Personen in den Fragerunden sprachen über ihre Sorgen oder die ihrer Familie. Denn viele haben schwierige Erfahrungen mit dem Gesundheitssystem gemacht – ob sie aus der Karibik oder einem anderen Land kommen. 

Wir haben auch Impfstoff-Informationen in indigenen Gemeinden verbreitet. Diese Menschen wurden von unserem Gesundheitssystem bislang schlecht behandelt. Wenn wir ihnen gesagt haben, dass sie für die Impfung priorisiert sind, wollten sie wissen, ob sie Versuchskaninchen sind. Diese Gruppen haben ein Recht darauf, skeptisch, besorgt und vorsichtig zu sein, aufgrund dessen, wie es ihnen in der Vergangenheit ergangen ist. 

Ich selbst bin BIPoC und wir sind in der Regel am schlimmsten von COVID-19 betroffen. Wir wollen diese Menschen schützen und sie wissen lassen, dass an ihnen keine Experimente durchgeführt werden. Die Impfstoffe haben strenge Tests und behördliche Prüfungen durchlaufen. Menschen können sich darauf verlassen, dass sie sicher und geschützt sind. 

Warum denken Sie, dass Impfgerechtigkeit so wichtig ist? Und weshalb müssen wir uns darüber Gedanken machen? 

Andere Leute haben es schon gesagt: Wir sind nicht sicher und geschützt, bis wir alle sicher und geschützt sind. Wenn wir wissen, dass 90 Prozent der COVID-19-Fälle, die wir erfassen, in 10 Prozent der Postleitzahlen in Ontario auftreten, dann bedeutet das, dass wir uns um diese Menschen kümmern müssen. 

Für eine exponentiellen Übertragungsrate wird nur eine Person, die das Virus überträgt, benötigt. 

Wir können COVID-19 nicht eindämmen, wenn wir nicht die Menschen schützen, die es verbreiten und die systemrelevante Arbeiter*innen und BIPoC sind. Wenn wir die Menschen, die den Impfstoff am dringendsten brauchen, nicht impfen können, wird sich das Virus immer weiter ausbreiten, immer und immer wieder.


Wenn uns das vergangene Jahr etwas über globale Gesundheit gelehrt hat, dann wie wichtig Impfstoffe sind. The World's Best Shot ist eine Serie, die die Geschichten von Impfstoff-Aktivist*innen auf der ganzen Welt erzählt.

Diese Serie wurde mit Unterstützung durch die Bill and Melinda Gates Stiftung ermöglicht. Jeder der Beiträge ist redaktionell unabhängig erstellt worden.