Weltweit leiden etwa 21 Millionen Menschen an Onchozerkose, der sogenannten Flussblindheit. Schätzungen zufolge weisen etwa 14,6 Millionen eine Hauterkrankung auf und 1,15 Millionen leiden unter Sehstörungen oder Blindheit. Onchozerkose ist die zweithäufigste Ursache von Blindheit infolge von Infektionen weltweit.
Flussblindheit gehört zu den sogenannten "Big Five" der insgesamt 20 vernachlässigten Tropenkrankheiten (NTD) – neben Trachom, Elefantiasis, bodenübertragenen Wurmerkrankungen (Geohelminthen) und Bilharziose.
Sabine Specht, Leiterin der Abteilung Filarialkrankheiten bei DNDi (Drugs for Neglected Diseases initiative), hat sich der Bekämpfung von Onchozerkose angenommen und verwaltet die Filarienprojekte in allen Phasen des klinischen Entwicklungsprozesses für neue Behandlungen. In diesem Interview spricht sie mit Global Citizen über die Auswirkungen der Flussblindheit und wie sie der Krankheit ein Ende setzen möchte.
Was ist Flussblindheit, wie wird sie ausgelöst und welche Folgen hat die Erkrankung?
Sabine Specht: Die Onchozerkose, oder auch Flussblindheit genannt, ist eine Infektionserkrankung, die durch Fadenwürmer hervorgerufen wird. Die Würmer gelangen durch den Biss einer infizierten Kriebelmücke in den menschlichen Körper. Die von der Mücke übertragenen Larven bewegen sich unter der Haut und bilden Knoten, in denen sie sich innerhalb von zwölf bis 18 Monaten zu adulten Würmern entwickeln. Die Knoten können unter der Haut gesehen oder ertastet werden, verursachen selbst in der Regel aber keine Symptome.
Nach der Paarung produzieren sie Eier, die sich zu jungen Larven (Mikrofilarien) entwickeln. Ein Wurm kann jeden Tag Tausende dieser Mikrofilarien produzieren. Sobald sie sterben, entsteht eine Immunreaktion, die schließlich die typischen Onchozerkose-Symptome auslöst und sich zunächst in einem sehr quälenden Juckreiz äußern kann.
Weitere Symptome sind
- Hautauschläge,
- Entzündungen,
- Schwellungen,
- Läsionen.
Über einen längeren Zeitraum hinweg kann die Haut so stark geschädigt werden, dass sie Anzeichen von vorzeitiger Alterung aufweist. Sie kann ihre Elastizität und ihre Pigmentierung verlieren. Man spricht dann von Echsenhaut (“Lizard-skin”) oder Leopardenhaut (“Leopard-skin”). In schweren Fällen können sich bei den Betroffenen lange Hautfalten entwickeln, die über den Unterbauch und die oberen Oberschenkel hängen (in der Leistengegend). Lymphknoten, inklusive der im Genitalbereich, können sich entzünden und anschwellen.
Beim Absterben der Mikrofilarien in den Augen entstehen Entzündungen, die ohne Behandlung zur Eintrübung bis hin zur Vernarbung der Hornhaut führen können. Andere Strukturen des Auges wie Iris, Pupille und Netzhaut können ebenfalls betroffen sein. Der Sehnerv kann sich entzünden und degenerieren. Die Auswirkungen auf die Sehkraft erstrecken sich von leichter Beeinträchtigung (Trübung) bis zu kompletter Blindheit. Die Krankheit wird Flussblindheit genannt, weil die Kriebelmücke, die die Infektion überträgt, in der Nähe schnell fließender Bäche und Flüsse lebt und brütet und somit die Erblindung vor allem in den dem Fluss in der Nähe gelegenen Dörfern auftritt.
Mediziner*innen gehen davon aus, dass eine unbehandelte Flussblindheit die Lebenserwartung um mehrere Jahre herabsetzt. Denn die Erkrankung schwächt das Abwehrsystem und erhöht die Anfälligkeit für weitere Krankheiten. Zwar ist die akute Sterblichkeit dieser Krankheiten zunächst oft gering, gleichwohl ist aber die Lebensbeeinträchtigung sehr hoch.
Betroffen sind vor allem Menschen in Ländern mit niedrigem Einkommen. Frauen und Männer können mit schweren Symptomen oft nicht mehr arbeiten, so ist die Versorgung der Familie gefährdet. Im schlimmsten Fall müssen Kinder der Schule fernbleiben, um die Familie zu unterstützen. Oft sorgen diese Krankheitsbilder zudem für Stigmatisierung, Betroffene werden ausgegrenzt.
In der Vergangenheit sind Hunderttausende in Afrika aufgrund von Onchozerkose erblindet – ganze Gemeinden sind aus fruchtbaren Flussgebieten in endemischen Regionen geflohen, um der Krankheit zu entgehen. Auf diese Weise werden Armutskreisläufe kreiert oder verstärkt, die betroffene Länder Milliarden von US-Dollar kosten und ihre Wirtschaftskraft zusätzlich schwächen.
Gibt es dagegen keine Medikamente?
Es gibt einige wenige Mittel und Behandlungsstrategien, die sehr erfolgreich sind, aber sie haben ihre Begrenzungen, die die Bekämpfung stark erschweren und zur Folge haben, dass auch nach so vielen Jahren immer noch Millionen von dieser Erkrankung betroffen sind.
So wurde das Onchozerkose-Kontrollprogramm (OCP) in den 1970er Jahren von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ins Leben gerufen und konnte in Westafrika die Flussblindheit durch den Einsatz von Insektiziden unter Kontrolle bringen. 1995 wurde das sogenannte African Programme for Onchocerciasis Control (APOC, afrikanisches Onchozerkose-Kontrollprogramm) gestartet, dessen Hauptstrategie in der flächendeckenden Behandlung mit dem Antiparasitikum Ivermectin besteht.
Der Wirkstoff tötet junge Würmer ab und ist äußerst wirksam und sicher – 2015 erhielten ihre Entdecker*innen dafür den Nobelpreis für Medizin. Das Medikament beugt durch den Effekt auf die Mikrofilarien die Entstehung von Blindheit und Hauterscheinungen vor. Nach drei Jahrzehnten des Gebrauchs von Ivermectin melden viele Länder vor allem in Lateinamerika die Ausrottung der Onchozerkose. Auch in Afrika ist die Zahl der Patient*innen mit Symptomen deutlich gesunken.
Doch reicht das für eine Eliminierung noch nicht aus: die Verbreitung konnte nur von ursprünglich etwa 30 Millionen auf 21 Millionen Infizierte reduziert werden. Die Gründe hierfür sind vielschichtig. Da die Massenbehandlungen viele Jahre lang ein- bis zweimal jährlich wiederholt werden müssen, bis die erwachsenen Würmer von selbst sterben, wird die Eliminierung der Krankheit mit den heutigen Mitteln in stark endemischen Gebieten viele Jahrzehnte dauern. Der Erfolg einer solchen Strategie ist vor allem von der Abdeckung der Bevölkerung abhängig.
Darüber hinaus kann Ivermectin bei Menschen, die mit einem anderen Fadenwurm, dem afrikanischen Augenwurm infiziert sind, schwere Nebenwirkungen hervorrufen. Wegen des Risikos, dass Nebenwirkungen auftreten, werden diese Programme in einigen Regionen zentralafrikanischer Länder, in denen Koinfektionen auftreten können, gar nicht erst durchgeführt.
Die Verteilung des Ivermectins ist eine Mammutaufgabe für die einzelnen Länder, die eh schon unter einem sehr schwachen Gesundheitssystem leiden. Auch wenn es umsonst zur Verfügung gestellt wird, muss es in regelmäßigen Abständen in die entlegensten Regionen gebracht und verteilt werden. Infolge der politischen Konflikte und Instabilität fehlt es vor allem an einer funktionierenden Infrastruktur.
Weitere Faktoren, die sich auf eine angemessene Abdeckung auswirken, sind Skepsis in der Bevölkerung, beispielsweise wegen Gerüchten über die Medikamente, oder Gebiete, die einfach nicht erreicht werden können (wegen anhaltender Konflikte oder Migration der Bevölkerung). Hinter all dem steht der allgemeine Mangel an finanziellen Mitteln für den Zugang zu Medikamenten und unzureichendes politisches Engagement.
Pastor Jerome Gendose Kayana, 57, verlor 2000 sein Augenlicht durch Flussblindheit.
Derzeit arbeitest du an der Entwicklung eines neuen Medikamentes in Kongo. Kannst du uns mehr darüber erzählen?
Wir testen die Wirksamkeit, Nebenwirkungen und Sicherheit eines Medikamentes. Es handelt sich hier um Substanzen, die aus der Veterinärmedizin stammen. Wir übertragen sie in die Humanmedizin. Das Medikament zielt darauf ab, den erwachsenen Wurm zu töten und somit zur Eliminierung der Onchozerkose und zu einer verbesserten Patient*innenversorgung beizutragen. Ein solches Medikament gibt es bisher nicht. Die erfolgreiche Verwendung dieser Substanzen in der Tiermedizin geben uns große Hoffnung, dass sie auch bei humanen Wurminfektionen erfolgreich sein werden.
Sobald das Medikament alle Testphasen erfolgreich durchläuft, wird eine Marktzulassung beantragt. Mit diesem Schritt ist man aber noch nicht am Ende, denn das Medikament muss auch den Patient*innen verfügbar gemacht werden. Mit unseren Partnern und den nationalen Behörden arbeiten wir daher jetzt schon an Strategien, um die Therapie nachhaltig und bezahlbar zur Verfügung stellen zu können. Gleichzeitig arbeite ich im Kongo sehr eng mit den dortigen Behörden zusammen, um die Erkrankung exakt zu kartieren, das sogenannte precision mapping. Nur wenn man genau weiß, in welchen Regionen die Krankheit vorkommt, kann man die Medikamente auch gezielt einsetzen und eine Elimination erreichen.
Wie kann man die Situation verbessern und welchen Beitrag kann deine Arbeit dazu leisten?
Die jährlichen Erhebungen zur globalen Innovationsfinanzierung für vernachlässigte Krankheiten (Global Funding of Innovation for Neglected Diseases - G-FINDER) zeigen, dass für vernachlässigte Tropenkrankheiten nicht annähernd die erforderlichen Mittel zur Verfügung stehen und dass sie, wenn sie denn zur Verfügung stehen, nur selten so eingesetzt werden, dass die Produkte zu den Patient*innen gelangen. Nur ein Prozent aller neuen Medikamente, die in den letzten 25 Jahren auf den Markt kamen, waren für vernachlässigte Krankheiten bestimmt.
Da setzt meine Arbeit an. Wir versuchen, diese Lücke durch Forschung und Entwicklung neuer Therapieansätze zu schließen. Hierzu sind wir sowohl international als auch innerhalb des Kongos stark vernetzt, um für das Land angepasste Lösungen zu finden. Das ist ein ganz wichtiger Teil der Arbeit, denn es gibt oft nicht die eine Lösung für alle.
Wie kommunizierst du mit der Community, um diejenigen zu erreichen, auf die in den Dörfern und Kommunen gehört wird?
Hier ist es ganz wichtig, die Kommunikation auf jeder Ebene zu führen. Dazu gehört nicht nur die internationale wissenschaftliche Gemeinschaft. Es ist ebenso wichtig, sich mit den Betroffenen auszutauschen. Nur so kann man die Probleme und Gegebenheiten verstehen und dementsprechend gemeinsam Lösungen konzipieren.
DNDi verfügt über ein Büro im Kongo und hat in den letzten Jahren dort schon eine Struktur zur Durchführung klinischer Studien aufgebaut. Im Rahmen dieser Aktivitäten haben meine kongolesischen Kolleg*innen ein großes Forschungs- und Entwicklungsnetzwerk aufgebaut, das nun gewährleistet, dass das Medikament auch wirklich die Patient*innen erreicht. Das wird derzeit durch mobile Teams gelöst, die aktiv infizierte Patient*innen in den entlegensten Gebieten aufsucht.
Dr. Specht mit Pasteur Jerome Gendose Kayana
Welche Bedeutung hat mediale Aufmerksamkeit für das Thema NTDs?
Ich finde es enorm wichtig, den Patient*innen eine Stimme zu verleihen. Diese Erkrankungen kommen in unseren Gebieten nicht vor, die meisten haben noch nie von der Flussblindheit gehört. Doch es gibt sie und hinter allen Patient*innen steht eine Leidensgeschichte, die ihr Leben und das der Angehörigen stark beeinträchtigt.
Die globale Gemeinschaft hat die Möglichkeit, das Leid der Menschen zu verringern. Wir können auf der Erfahrung und dem Fortschritt der vergangenen Jahrzehnte aufbauen und neue Impulse für die Forschung geben. Mit mehr Mitteln könnten wir die Flussblindheit in den betroffenen Ländern Afrikas deutlich schneller eliminieren. Bei NTDs handelt es sich nicht um neu auftretende Infektionen, sondern um uralte Krankheiten, die die Menschheit seit Jahrhunderten plagen und folglich enorme Auswirkungen auf die alte und moderne Geschichte haben.
Nur durch die Zusammenarbeit mit den Regierungen der Länder, in denen NTDs endemisch sind, mit deren politischem Willen und mit der Unterstützung der Geber können NTDs erfolgreich bekämpft oder im Idealfall sogar ihr Ausbruch verhindert werden. Durch mediale Sichtbarkeit können wir auf die Problematik und Auswirkungen von NTDs aufmerksam machen und die Gemeinschaft derer vergrößern, die bereit sind zu investieren.
Bist du optimistisch, dass die Flussblindheit auch im Kongo eingedämmt werden kann?
Es geht darum, auf ein gemeinsames Ziel hinzuarbeiten, auf die Mission, eine bessere Gesundheitsversorgung zu bieten. Wir haben gezeigt, dass dieser Ansatz seit DNDis Gründung im Jahr 2003 bereits zwölf neue Therapien für NTDs hervorgebracht hat. Ich weiß, dass wir die Krankheiten, von denen die Ärmsten betroffen sind, nur dann bekämpfen können, wenn wir uns alle zusammentun – Interessengruppen, Geldgeber*innen, Wissenschaftler*innen – und unseren Teil zur Geschichte beitragen. Ich bin sehr optimistisch, dass wir die Flussblindheit in den Griff bekommen können. Es ist zwar ein langer und auch steiniger Weg, aber gemeinsam mit unseren Partnern und Förder*innen können wir es schaffen.