Ein Artikel von Natasha Bowler - Thomson Reuters Foundation

Reykjavík, 25. Januar 2017 - die inzwischen fast fünf Monate alte Valgerour Halla kam aus eher ungewöhnlichen Umständen zu ihrem Namen. Das Mädchen wurde als Tochter syrischer Eltern in Reykjavík, Island geboren. Doch statt eines traditionellen, syrischen Namens sagt der 36-jährige Vater Wael, der ursprünglich aus dem Westen Syriens stammt: „Eine unserer engsten isländischen Bekannten heißt Valgerour Halla. Sie hat uns bei so vielen Dingen geholfen, wir wollten ihr auf diesem Wege ‚Danke‘ sagen.“

In einem Interview mit der Thomson Reuters Foundation beschreibt die Familie die Strapazen, die sie auf sich nahmen, um ihre vom Krieg zerrüttete Heimat Syrien zu verlassen. Wie ihre Reise durch Europa aussah, und wie sie letztendlich dazu kamen, auf einer abgelegenen Insel nahe dem Polarkreis Zuflucht zu finden.

„Ich mag es hier [Island], vor allem auch für die Kinder. Es ist sehr sicher und jeder ist freundlich. Wir wollen unbedingt hier bleiben“, sagt Wael.

Wael und seine Frau Ferayl kamen im Sommer 2015 mit den beiden Töchtern Jana (5 Jahre) und Julie (4 Jahre) in Island an. Ihre jüngste Tochter Valgerour Halla Aliyadah wurde ein Jahr später, im September 2016, geboren. Es dauerte allerdings ein paar Wochen, bis Wael den Namen seiner eigenen Tochter richtig aussprechen konnte.

„Die zwei älteren Mädchen bringen ihrem Vater inzwischen immer neue isländische Wörter bei oder übersetzen für ihn, wenn er mit den Nachbarn spricht”, erzählt Mutter Ferayl. „Mittlerweile sprechen die zwei nur noch isländisch wenn sie miteinander spielen. Zuhause sprechen wir aber noch arabisch.“

Wael Aliyadah am Hafen von Reykjavík am 08. Januar 2017. Thomson Reuters Foundation / Filippo Brachetti

Ferayl vermisst ihr Heimatland Syrien sehr, aber schmunzelt bereits, wenn sie an all die freundlichen Isländer denkt, die ihr die Übergangsphase um einiges leichter machen.

„An den letzten beiden Weihnachtsfesten haben die Mädchen von den Isländern Hunderte von Geschenke zugeschickt bekommen”, sagt Ferayl. „Wir haben jetzt zwei Zuhause: eins in Syrien und eins in Island.”

Ein langer Weg bis in die Freiheit

Bereits 2013 verließ die Familie ihre Heimatstadt Tartus. Alle Familienmitglieder sind sunnitische Muslime, lebten jedoch in einer überwiegend alawitischen Stadt - und fürchteten um ihr Leben. Wael entschloss sich deshalb zu handeln.

„Wenn ich in Syrien geblieben wäre, wäre ich zum Armeedienst gezwungen worden”, erzählt er. „Ich hasse Krieg. Ich möchte keine Menschen töten. Deshalb sind wir geflohen. Ich glaube nicht, dass ich jemals wieder in Syrien leben möchte. Vielleicht bleiben wir unser ganzes Leben lang in Island. Die Zukunft hier sieht für unsere Kinder besser aus als in Syrien.”

Von ihrem Heimatland aus machten sie sich mit anderen Familien auf den Weg und überquerten zunächst die türkische Grenze zu Fuß. Als sie in Istanbul ankamen, bezahlten sie einen Schmuggler, der sie nach Griechenland brachte. Hier verbrachten sie ganze 14 Monate.

„Wir hatten kein Zuhause und kein Geld. Wir schliefen auf der Straße.” berichtet Wael. „Von der griechischen Regierung konnten wir keine finanzielle Unterstützung erwarten. Als die Grenze endlich geöffnet wurde, sind wir sofort weiter nach Island gereist.”

Im Internet hatte Wael gelesen, dass in Island nicht sehr viele Flüchtlinge leben. Deshalb entschied er sich, mit seiner Familie hierhin zu kommen. Seit 1956 hat Island weniger als 600 Flüchtlinge aufgenommen. 2016 wurde gerade einmal 16 syrischen Familien Asyl gewährt.

Das neue Zuhause der Familie Aliyadah in Reykjavík hat zwei Schlafzimmer und liegt in einem ruhigen Stadtteil. Ihr Alltag könnte nicht unterschiedlicher sein als die Vergangenheit in Syrien.

In der isländischen Hauptstadt gibt es während der Wintermonate ca. drei Stunden Tageslicht. Die Temperaturen liegen fast durchgehend unter Null Grad Celsius. „Als ich damals meiner Familie erzählte, dass wir alle nach Island gehen, konnten sie es erst nicht nachvollziehen”, erzählt Wael. „Sie meinten: ‚Aber in Island ist es kalt und das Land ist so weit weg.‘ Doch ich sagte ihnen, das Leben dort ist gut. Die Luft ist sauber, man fühlt sich sicher und man kann sich die Arbeit aussuchen.”

Die Polizei hilft

Als Familie Aliyadah damals am Flughafen Reykjavík ankamen, war es drei Uhr morgens. Sie wussten nicht, was sie tun sollten oder wohin sie gehen sollten. Dann trafen sie auf Polizeibeamte.

„Sie nahmen uns mit auf die Wache. Ich war sicher, dass sie uns gleich in eine Zelle stecken würden. Stattdessen aber schlossen sie eins der Büros auf, so dass wir dort übernachten konnten. Am nächsten Tag brachten sie uns in ein Hotel und kontaktierten das Rote Kreuz. Die Mitarbeiter haben uns von Anfang an sehr unterstützt”, erzählt Wael.

„Natürlich hatten wir gehofft, dass der Stress und die Strapazen der Vergangenheit nun vorbei waren, aber ganz so war es nicht.”

Ein paar Monate später wurde der Asylantrag der Familie abgelehnt. Die Regierung Islands hatte entschieden, die Familie zurück nach Griechenland zu schicken. Doch Wael wollte nicht aufgeben und versuchte es erneut - und bezog diesmal die Öffentlichkeit mit ein.

„Unser Fall hat in Island für viel Aufmerksamkeit gesorgt”, sagt Wael. „Mehr als 5.000 Menschen setzten sich dafür ein, dass wir bleiben konnten. Menschen, die mich oder meine Familie gar nicht kannten. Das war überwältigend.

Der Pressesprecher der isländischen Einwanderungsbehörde órhildur Ósk Hagalín erklärte, dass der Asylantrag beim ersten Mal abgelehnt wurde, weil Griechenland der Familie bereits Asyl gewährt hatte. Diese Entscheidung wurde allerdings durch ein Gericht wieder aufgehoben.

Die Schule, die die beiden Mädchen Julie und Jana inzwischen besuchen, hat sich ebenfalls dafür eingesetzt, dass die Familie im Land bleiben darf - allen voran die Schulleiterin Halldora Gudmundsdottir.

„Sobald man die Familie kennenlernt, wächst sie einem gleich ans Herz. Und die Mädchen wollten unbedingt hier bleiben. Wir fanden den Gedanken, die Familie wieder zurück nach Griechenland zu schicken, einfach absurd“, sagt Gudmundsdottir. 

Familie Aliyadah darf offiziell in Island bleiben. Und Schulleiterin Gudmundsdottir rechnet auch fest damit, dass die Familie hier ihre neue Heimat findet: „Wir freuen uns schon, in Zukunft auch Valgerour Halla als Schülerin an unserer Schule begrüßen zu dürfen.“

(Ein Beitrag von Natasha Bowler; Überarbeitet von Lyndsay Griffiths; Bitte die 'Thomson Reuters Foundation' als Quelle angeben, wenn dieser Artikel zitiert / geteilt wird. Die Thomson Reuters Foundation liefert Beiträge über humanitäre Hilfe, Frauenrechte, Menschenhandel, Klimawandel und vieles mehr auf news.trust.org.)

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