Waris Dirie, Auto­rin des Buches „Wüs­ten­blume“, kämpft seit Jahr­zehn­ten und mit ver­ein­ten Kräf­ten gegen weib­li­che Geni­tal­ver­stüm­me­lung. 1997, auf dem Höhe­punkt ihrer Model-Karriere, hat Dirie, die als jun­ges Mäd­chen aus Soma­lia floh, erst­mals öffent­lich über das Trauma ihrer Kind­heit gespro­chen. Im sel­ben Jahr wurde sie zur UN-Sonderbotschafterin gegen weib­li­che Geni­tal­ver­stüm­me­lung (Female Geni­tal Muti­la­tion, FGM) ernannt. Im Inter­view berich­tet sie über bis­he­rige Fort­schritte gegen FGM und was alles noch getan wer­den muss, um Mäd­chen und Frauen welt­weit vor die­ser grau­sa­men Prak­tik zu schützen.

Frau Dirie, Sie kämp­fen seit über zwan­zig Jah­ren gegen weib­li­che Geni­tal­ver­stüm­me­lung. Worin sehen Sie die größ­ten Fort­schritte, die bis heute erzielt wurden?

Waris Dirie: Vor 20 Jah­ren wollte nie­mand über die­ses Thema spre­chen. Die Medien haben sich dafür nicht inter­es­siert. Es gab welt­weit kaum Gesetze gegen die­ses abscheu­li­che Ver­bre­chen an unschul­di­gen klei­nen Mäd­chen und es wurde von den gro­ßen NGOs nicht ein­mal the­ma­ti­siert. Heute gibt es zahl­rei­che Kam­pa­gnen gegen FGM. Die Medien, selbst in der mus­li­mi­schen Welt, berich­ten dar­über, fast alle Län­der haben mitt­ler­weile Gesetze gegen FGM, viele NGOs enga­gie­ren sich gegen FGM und afri­ka­ni­sche Poli­ti­ke­rin­nen haben den Kampf gegen FGM für sich ent­deckt. Ich denke, dass ich mit mei­ner Desert Flower Foun­da­tion einen wich­ti­gen Bei­trag geleis­tet habe, dass diese bru­tale Fol­ter lang­sam verschwindet.

Sie pran­gern an, dass west­li­che Poli­ti­ker in Sachen Geni­tal­ver­stüm­me­lung zu viel reden und pla­nen, aber zu wenige Taten fol­gen las­sen. Woran liegt das?

Waris Dirie: Es geht nicht nur um west­li­che Poli­ti­ker. Poli­ti­ker auf der gan­zen Welt haben das Thema FGM aus­ge­klam­mert und wich­tige Schritte, wie die UN-Resolution, die FGM zum Ver­bre­chen erklärt und Gesetze welt­weit for­dert, blo­ckiert. 1997 wurde ich zur UN-Sonderbotschafterin ernannt, aber erst 2012 hat die UN-Generalversammlung die Reso­lu­tion gegen FGM ver­ab­schie­det. Die Euro­päi­sche Union hat FGM erst 2006 nach dem Erschei­nen mei­nes Buches „Schmer­zens­kin­der“, das die weite Ver­brei­tung von FGM in afri­ka­ni­schen Com­mu­nities in Europa the­ma­ti­siert, auf ihre Agenda gesetzt. Nach unse­rer Prä­sen­ta­tion vor dem EU-Ministerrat haben sich euro­päi­sche Regie­run­gen end­lich gegen FGM engagiert.

Was müs­sen sei­tens der Poli­tik die wei­te­ren zen­tra­len Schritte sein, um Frauen und Mäd­chen, vor allem in afri­ka­ni­schen Län­dern, vor die­ser Men­schen­rechts­ver­let­zung zu schützen?

Waris Dirie: Bil­dung, Auf­klä­rung, medi­zi­ni­sche Hilfe für die Opfer und strenge Stra­fen für die, die FGM trotz­dem wei­ter prak­ti­zie­ren, sind die wich­tigs­ten Maß­nah­men, um die Welt von die­sem Irr­sinn zu befreien.

Wel­che Erfah­run­gen haben Sie über Dia­loge und Pro­jekte mit Fami­lien und loka­len Mei­nungs­füh­rern vor Ort gemacht, kön­nen sol­che Gesprä­che zum Umden­ken führen?

Waris Dirie: Ich setze auf die jun­gen Men­schen! Viele junge Men­schen in Afrika, auch in länd­li­chen Gebie­ten, haben Zugang zum Inter­net und damit zu Infor­ma­tio­nen, die ihnen neue Per­spek­ti­ven eröff­nen. 700 Mil­lio­nen Afri­ka­ne­rin­nen besit­zen Han­dys. Die loka­len Mei­nungs­füh­rer ver­lie­ren an Glaub­wür­dig­keit und Bedeu­tung, da sie den Jun­gen weder eine beruf­li­che, noch sonst irgend­eine Per­spek­tive geben kön­nen. Afrika ist der mit Abstand „jüngste“ Kon­ti­nent und nur wer den Jun­gen eine Per­spek­tive, eine Chance auf eine men­schen­wür­dige Zukunft geben kann, ver­än­dert Afrika.

Das Inter­net hat auch in der afri­ka­ni­schen Gesell­schaft eine Revo­lu­tion und einen Wer­te­wan­del aus­ge­löst, der im Wes­ten nicht erkannt wird. Die jun­gen Afri­ka­ne­rin­nen, vor allem Teen­ager, haben ganz andere Vor­stel­lun­gen, Träume, Wün­sche und Ziele im Leben, als ihre Eltern oder Groß­el­tern. Sie wol­len selbst etwas im Leben errei­chen. Gesell­schaft­lich ver­krus­tete Struk­tu­ren bre­chen über­all auf. Junge Afri­ka­ne­rin­nen sind heute viel selbst­be­wuss­ter. Die Stel­lung der Frau ändert sich rasant und FGM wird bald Geschichte sein.

Wel­che Rolle spie­len reli­giöse, tra­di­tio­nelle und patri­ar­cha­li­sche Über­zeu­gun­gen beim Fest­hal­ten an diese Praktik?

Waris Dirie: Es sind die Alten und die heute noch Mäch­ti­gen mit ihrer Igno­ranz und Ver­bohrt­heit, die an FGM und einer Gesell­schafts­form, dem Patriachat, das keine Zukunft hat, fest­hal­ten wol­len. Aber ihre Zeit ist abge­lau­fen. All das dumme Gequat­sche, dass FGM mit Reli­gion, Tra­di­tion, Kul­tur zu tun hätte, nervt mich fürch­ter­lich. FGM ist ein Ver­bre­chen an unschul­di­gen klei­nen Mäd­chen, eine unglaub­lich per­fide und schwere Men­schen­rechts­ver­let­zung, die bestraft wer­den muss.

Sie sagen: „Africa needs a new spi­rit“. Was genau ver­ste­hen Sie dar­un­ter? Und wie kön­nen wir von hier aus die­sen Pro­zess unterstützen?

Waris Dirie: Afrika besitzt zwei Drit­tel der land­wirt­schaft­lich noch nicht genutz­ten Flä­chen und ein Drit­tel aller Boden­schätze unse­res Pla­ne­ten. Es gibt aber kaum Wert­schöp­fung in Afrika und damit feh­len viele Mil­lio­nen Arbeits­plätze. Land­wirt­schaft wird von afri­ka­ni­schen Regie­run­gen kaum unter­stützt oder sub­ven­tio­niert. Statt­des­sen gibt es ein hor­ren­des Bud­get für Waf­fen. Das ist nicht nur dumm, son­dern kriminell.

Die Hälfte der afri­ka­ni­schen Bevöl­ke­rung ist unter 20 Jahre alt und möchte raus aus Armut, Kor­rup­tion, Igno­ranz und desas­trö­sen Regie­run­gen, die nur in die eigene Tasche wirt­schaf­ten.
Es gibt junge, gut aus­ge­bil­dete und talen­tierte Poli­ti­ke­rin­nen in Afrika, die den Kon­ti­nent wei­ter­brin­gen wer­den. Die „Politzom­bies“ gehö­ren, zur Abschre­ckung, ins Wachs­fi­gu­ren­ka­bi­nett.
Die Jugend­li­chen und die Frauen Afri­kas müs­sen geför­dert und unter­stützt wer­den. Sie und ihre Kin­der kön­nen den Kon­ti­nent zum Blü­hen brin­gen. Unter­stützt erfolg­rei­che Unter­neh­men aus dem Wes­ten, die in Afrika inves­tie­ren und pro­du­zie­ren wol­len, damit viele Arbeits­plätze geschaf­fen wer­den. Inves­tiert in junge afri­ka­ni­sche Unter­neh­men, die keine Chance auf Finan­zie­rung in Afrika haben, damit diese wach­sen kön­nen. Am wich­tigs­ten ist es, in die Bil­dung von Mäd­chen und Frauen zu inves­tie­ren, denn sie sind das Rück­grat und die Zukunft der afri­ka­ni­schen Gesellschaft.

Herz­li­chen Dank für das Gespräch!

Editorial

Gerechtigkeit fordern

Interview mit Waris Dirie: Weibliche Genitalverstümmelung ist Folter und muss enden!