Mein Schwur. In meinem Leben musste ich sehr viele schwierige Aufgaben meistern. Aber egal, was immer es auch war, es hängt allein vom Willen ab, ob man überlebt oder nicht. Und es ist genau dieser Wille, der mich zu dem Menschen gemacht hat, der ich heute bin. Sehr oft werde ich gefragt, ob ich gegenüber meiner Mutter Hass empfinde, weil sie mir in meiner Kindheit diese schreckliche Genitalbeschneidung angetan hat, weil sie mir mein Recht auf Unversehrtheit meines Körpers genommen hat, weil sie mir diese grausamen Schmerzen zugefügt hat. Natürlich werde ich dieses Trauma nie vergessen, aber meine Antwort ist immer dieselbe: Nein!

Hass habe ich nie verspürt, obwohl meine Mutter mich festgehalten hat, als es geschah. Es war vielmehr Wut. Ich war wütend auf sie. Ich konnte einfach die Gründe und Argumente nicht verstehen, dass einem kleinen Mädchen so eine fürchterliche Folter angetan wird. Später habe ich meiner Mutter vergeben. Sie selbst musste das alles auch erleiden und war überzeugt, dass auch ich dies alles durchleiden müsse, um zu einer Frau zu werden. Alles eine Frage der Aufklärung und Erziehung. Aber schon damals hatte ich dieses starke Gefühl in mir, dass FGM etwas sehr Falsches ist und ich schwor mir, dass ich eines Tages gegen diese schlimme Praxis kämpfen werde. Ich wusste nur noch nicht, wie.

Immer Nomadin. Wenn ich heute zurückblicke, muss ich sagen, dass ich eine schöne Kindheit an einem schönen Ort in der Wüste hatte. Ich wuchs auf in der Natur mit Tieren, so wie sich das viele Kinder in ihren Fantasien gerne ausmalen, und ich lernte die einfachen, aber so wichtigen Dinge, wie Wasser und dergleichen, sehr zu schätzen. Abgesehen von der Beschneidung und der versuchten Zwangsverheiratung für fünf Kamele durch meinen Vater an einen Mann, der mein Großvater hätte sein können, würde ich meine Kindheit nicht ändern wollen. Ich hatte das Glück, dass ich das Beste von zwei Welten, die nicht unterschiedlicher sein könnten, kennenlernen durfte und noch immer kennenlernen darf. Ich liebe beide Welten. Aber im Grunde lebe ich immer noch nach der Überzeugung, wie wichtig es ist, Wasser für sich selbst und seine Tiere für einen Tag zu finden. Ich weiß, dass ich immer eine Nomadin bleiben werde.

Rechte für Mädchen. Ich bin in einer Gemeinschaft aufgewachsen, in der man nicht über Sex reden durfte. Ich brauchte nicht nur Jahre, um mein Trauma durch FGM (weibliche Genitalverstümmelung) zu verarbeiten, sondern auch sehr lange, um einen positiven Umgang mit meiner eigenen Sexualität zu finden. Als Mädchen hast du in Afrika keine Rechte. Du kannst verprügelt, vergewaltigt und verkauft werden. Zuerst bist du im Besitz deiner Familie, später deines Ehemannes oder seiner Familie. Doch FGM ist wohl das schrecklichste Verbrechen an einem Mädchen. Jahre später habe ich mich dazu entschieden, meinen Ruhm und meine Bekanntheit als Supermodel für den Kampf gegen FGM zu nutzen. Ich hatte meine Berufung gefunden, ich wusste plötzlich, das ist meine Mission. Auch wenn die Anfänge schwierig waren, mich viele verwundert anschauten und meinten: 'Wovon redet sie da?'

Macht und Unterdrückung. FGM existiert nur aus dem einen Grund, weil es noch immer diese Ungleichheit zwischen Mann und Frau gibt. Es geht darum, Kontrolle über uns Frauen auszuüben. Es geht um Macht und Unterdrückung. FGM ist grausam, hat keine medizinischen Hintergründe, sie hat nur den einen Zweck, die Frau und ihre Sexualität dem Mann zu unterwerfen. Willkommen im 21. Jahrhundert. Wie verrückt ist das? Mit meiner Desert Flower Foundationstelle ich Schulbildung für Mädchen und finanzielle Unabhängigkeit für Frauen deshalb ganz bewusst in den Mittelpunkt. Das sind die richtigen Werkzeuge, um FGM ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen. Unsere erste Schule haben wir daher bewusst in Sierra Leone aufgebaut, denn dort sind 94 Prozent aller Mädchen nach wie vor beschnitten.

Frauen stärken. Eine starke unabhängige Frau wird sich nicht so schnell dem Druck einer Gruppe unterwerfen. Es kommt nicht von ungefähr, dass die ärmsten Länder in Afrika nicht nur die höchste Analphabetenrate, sondern auch die höchste FGM-Rate haben. Zum Glück findet auch in Afrika ein Umdenken statt. Auf meinen Reisen treffe ich viele Mütter und Väter, die der grausamen FGM-Praxis abschwören. Das beweist auch eine Langzeitstudie des "British Medical Journal“, wonach 1995 noch 71 Prozent aller Mädchen in Ostafrika beschnitten wurden. 2017 ist die Rate bei Mädchen unter 14 Jahren auf acht Prozent gesunken. In Westafrika sank die Rate in den letzten 20 Jahren von 73 auf 25 Prozent, in Nordafrika von 57 auf 14 Prozent.

Rasanter FGM-Anstieg in Europa. Aber FGM ist immer noch da! Das Erschreckende ist, auch mitten unter uns in Europa, wo die Raten leider rasant ansteigen. Großbritannien und Frankreich haben dabei die höchsten Zahlen. In den USA, Kanada und Australien ist FGM ebenfalls weit verbreitet. Das hat ganz klar mit der Immigration zu tun. Zuwanderer*innen legen ihre Sitten und Gebräuche nicht so einfach ab, nur weil sie in ein anders Land kommen. Deshalb ist es auch so wichtig, weiterhin Maßnahmen umzusetzen, mit neuen Kampagnen die Bevölkerung wachzurütteln. Politiker*innen, vor allem in Europa, müssen das Problem viel ernster nehmen. Und von den Behörden fordere ich regelmäßige Gesundheitschecks für alle Mädchen, die von FGM bedroht sind. Wichtig sind Melde- und Anzeigepflicht von Gesundheitsbehörden, wenn bei Mädchen oder Frauen FGM festgestellt wird. Bildungspflicht für alle Immigrant*innen, verpflichtende Aufklärungsarbeit durch Asyl- und Sozialberater*innen, sowie strenge Gesetze und harte Urteile. Auch gegen all jene, die ihre Mädchen zur Beschneidung wieder außer Landes bringen.

Stoppt den Albtraum! Die Motivation bei mir ist nach all den Jahren dieselbe geblieben. Der einzige Weg, dieses abscheuliche Verbrechen und den Albtraum zu stoppen, ist durch Aufklärung und Bewusstseinsbildung. Die Welt vergisst viel zu leicht, dass 250 Millionen Frauen auf der ganzen Welt Opfer von FGM wurden und an die 3,5 Millionen Mädchen jährlich noch immer gegen ihren Willen beschnitten werden. FGM wird nicht nur von Muslimen, sondern auch von Christen und anderen Religionsgemeinschaften praktiziert. Mein Ziel ist es, weibliche Genitalverstümmelung zu Lebzeiten weltweit auszurotten. Davon werde ich niemals abrücken. Niemals!


In Zusammenarbeit mit Coco de Mer und Rankin möchte Dirie 10 Millionen Unterschriften sammeln, um weiblicher Genitalverstümmelung ein Ende zu setzen. Hier kannst du die Petiton unterstützen.

Dieser Artikel stammt von Waris Dirie und wurde an wenigen Stellen zum besseren Verständnis leicht verändert. 

Opinion

Gerechtigkeit fordern

Ich überlebte FGM als ich 5 Jahre alt war. Als ich mit 13 verheiratet werden sollte, rannte ich davon. Heute bin ich Model, Autorin und Aktivistin.