Viele Frauen werden wohl schon ähnliche Erfahrungen gemacht haben…

Man läuft die Straße entlang, lässt den Tag Revue passieren, denkt vielleicht daran, was man heute schon alles geschafft hat. Und plötzlich hört man eine Stimme hinter oder neben sich, vielleicht auch ein Pfeifen oder ein ähnliches Geräusch. Und besagte Stimme macht immer wieder Andeutungen über dein Aussehen und deinen Körper. Man weiß nicht so genau, ob man sich angegriffen fühlen soll oder nicht. Doch dann werden die Aussagen eindeutiger - und plötzlich fühlt man sich zu einem reinen Sexobjekt degradiert. Was machen? Wie in solchen Situationen reagieren? Die Stimme ignorieren? Der Person sagen, dass sie die Kommentare lassen soll? Oder sogar noch weiter gehen?

So oder so ähnliche Situationen werden mit hoher Wahrscheinlichkeit schon viele Frauen auf der ganzen Welt erlebt haben. In Indien allerdings sind solche Momente so allgegenwärtig, dass laut einer Studie 95% aller Frauen in ganz Indien eine ganze Reihe von Orten meiden, aus Angst vor Belästigungen. Und leider geht es noch ein Stückchen schlimmer: die Mehrheit der Frauen bringen sexuelle Belästigungen durch Männer nicht zur Anzeige, weil sie davon ausgehen können, dass die Behörden eh nichts dagegen tun werden.

Genau aus diesem Grund ist die Geschichte von Rajkumari so bemerkenswert.

Jeden Tag muss Rajkumari in sengender Hitze den langen Weg zwischen ihrem Heimatdorf Nagla Mai und ihrer Schule im benachbarten Dorf Mai zurücklegen. Und jeden Tag muss sie sich auf ihrem Weg den obszönen Kommentaren und Rufen eines Jungen aus dem Nachbardorf aussetzen. Sie solle einfach nicht auf die Kommentare des Jungen hören, haben viele Mädchen aus ihrer Klasse zu ihr gesagt. Doch so einfach wollte Rajkumari den Jungen nicht davon kommen lassen. Also ging sie auf ihn zu und machte ihm klar, dass sie solche respektlosen Bemerkungen nicht tolerieren würde.

Leider brachte die Konfrontation mit dem Jungen nichts. Im Gegenteil: er lachte nur und die Belästigungen gingen weiter.

Rajkumari nimmt am Bildungsprogramm für Mädchen teil, das die Organisation 'Room to Read' ins Leben gerufen hat. Im Rahmen des Programms wird den Mädchen unter anderem beigebracht, wie man zum Beispiel selbstbewusst auftritt, wie man Respekt vor sich selbst und vor anderen entwickelt oder wie man die Initiative ergreifen kann. Weil Rajkumari wusste, dass sie mit den Mentoren und den anderen Mädchen in ihrer Klasse offen sprechen kann, sprach sie ihr Problem mit dem Jungen in der nächsten Stunde an.

Ein weiterer Teil des Programms besteht darin, dass die Mentoren die Eltern der Mädchen auch zu Hause besuchen, um zum Beispiel nachzuhören, wie die Mädchen dort unterstützt werden oder aber um Probleme anzusprechen - wenn die Mädchen zum Beispiel mal im Unterricht fehlen. In Rajkumaris Fall entschied die ganze Klasse einstimmig, den Eltern des Jungen einen Besuch abzustatten und ihnen von den verbalen Angriffen ihres Sohnes zu erzählen.

Als die Gruppe die Eltern des besagten Jungen aufsuchten, wurden sie allerdings von der Reaktion der Familie überrascht. Denn die Mutter weigerte sich schlichtweg, zuzuhören und forderte die Gruppe auf, das Haus zu verlassen.

Angestachelt von Rajkumaris bis dahin vergeblichen Bemühungen und ermutigt durch die Reaktion seiner Mutter, trieb der Junge es sogar noch weiter auf die Spitze mit seinen Drohungen.   

„Du wirst es nicht mal mehr bis zum Eingang deiner Schule schaffen“, drohte er verhängsnisvoll.

Doch Rajkumari gab nicht nach und dachte garnicht daran, sich einschüchtern zu lassen. 

„Ich wollte diesem Typen, der meint, er könne Mädchen auf der Straße belästigen, eine Lektion erteilen”, sagt Rajkumari. Nach der Eskalation auf der Straße sprach sie mit der Schulbehörde. Mitarbeiter von 'Room to Read' standen ihr bei. Und die Schulbehörde gab Rajkumari Recht und wandte sich gemeinsam mit ihr und Room to Read an das örtliche Gram Panchayat (Gemeinderat).

Zum Glück hatten verschiedene Mitglieder des Gemeinderates in der Vergangenheit bereits an Treffen des Bildungsprogramms für Mädchen teilgenommen und den Einsatz von 'Room to Read' für die Mädchen des Dorfes voll unterstützt. Sie nahmen daher Rajkumaris Beschwerde über die Belästigung sehr ernst und beriefen ein Treffen mit der Familie des Jungen ein. Widerwillig entschuldigten sich die Eltern bei Rajkumari für das Verhalten ihres Sohnes - er selbst hielt es allerdings nicht für nötig, an dem Treffen teilzunehmen.

Damit gab Rajkumari sich nicht zufrieden. Eisern und unerschrocken hielt sie an ihrer Forderung fest, dass der Junge sich persönlich bei ihr zu entschuldigen hat und er für sein Verhalten bestraft werden müsse. Deshalb drohte Rajkumari mit weiteren rechtlichen Schritten, so dass dem Gemeinderat nur eine einzige Lösung übrig blieb: sie schrieben dem Jungen vor, sich vor dem versammelten Dorf bei Rajkumari zu entschuldigen und sich vor ihr zu verneigen. Und siehe da: ihm blieb am Ende keine andere Wahl als genau dies zu tun. Zudem musste er versprechen, nie wieder ein Mädchen zu belästigen, sonst greife beim nächsten Mal die Polizei ein.

Somit kam Rajkumari nicht nur zu ihrer mehr als verdienten Entschuldigung, sondern der Gemeinderat des Dorfs nimmt das Problem sexueller Belästigung auf der Straße jetzt stärker als Problem ernst.
Rajkumari selbst konnte dank dieser Aktion ihr eigenes Selbstvertrauen als auch das ihrer Mitschülerinnen stärken. Denn Rajkumari hat bewiesen, dass sie durch ihren eigenen Einsatz und durch unerschrockenen Mut echte Veränderung bewirken kann.

Mit Sicherheit einer der besten Wege, wie man mit sexueller Belästigung auf offener Straße umgehen kann und sollte.

Editorial

Gerechtigkeit fordern

Wie ein Mädchen in Indien den Kampf gegen sexuelle Belästigung gewann