Jeden Tag um Punkt 14 Uhr treffen sich 28 Schülerinnen im indischen Maharashtra, um zwei Stunden lang Lesen und Schreiben zu lernen. Sie üben das Alphabet, reihen auf alten Schiefertafeln Buchstabe an Buchstabe aneinander und versuchen, die ersten einfachen Sätze zu lesen.

Manchen von ihnen fällt es schwer, sich immer an all das zu erinnern, was sie in den letzten Monaten gelernt haben. Manche zweifeln leise, ob sie es je schaffen, sich alles zu merken. Trotzdem kommen alle 28 Schülerinnen Tag für Tag, um für zwei Stunden in dem Alphabet zu versinken und die Hoffnung nicht aufzugeben, dass die Buchstaben, die sie aneinanderreihen, in Zukunft Sinn ergeben werden.

Bei den eifrigen Schülerinnen handelt es sich um 28 Großmütter.

In der „Schule für Großmütter“ versuchen die Lehrkräfte, für all die Ungerechtigkeit, die sich in Indien im Bildungssektor abspielt, ein Stück Gerechtigkeit walten zu lassen. Denn noch immer können 273 Millionen Menschen in Indien weder lesen noch schreiben. Vor allem Frauen sind davon betroffen: Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Frau nicht lesen kann, ist 15% höher als bei einem Mann.

Denn häufig wird Mädchen nicht die Chance gegeben, zur Schule zu gehen, weil sie im Haushalt mithelfen oder das Einkommen der Familie aufbessern müssen. Manchmal sind aber auch Schulen unterfinanziert, unterbesetzt oder schlichtweg zu teuer, um alle Kinder einer Familie zur Schule zu schicken. In einen solchen Fall werden Söhne dann bevorzugt. 

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In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat Indien durchaus hart daran gearbeitet, allen Kindern im Land eine Bildungschance zu bieten: inzwischen sind 93% aller Kinder an Grundschulen angemeldet. 2009 führte die Regierung eine Schulpflicht ein, die vorsieht, dass alle Kinder bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres die Schule besuchen müssen.

In der Realität allerdings entscheidet noch viel zu oft die finanzielle Situation der Eltern darüber, ob ein Kind zur Schule gehen kann oder für die Familie arbeiten gehen muss. Daher können noch immer Millionen von Menschen in Indien weder lesen noch schreiben. 

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Dank Projekten wie die 'Schule für Großmütter' spüren die Frauen im fortgeschrittenen Alter eine Art Wiedergutmachung, wenn sie das Klassenzimmer betreten. Keine von Ihnen fühlt sich beschämt. Im Gegenteil, alle Schülerinnen sind der Meinung, dass es nie zu spät ist, lesen und schreiben zu lernen und wollen endlich die Welt um sich herum verstehen: was bedeuten die Schilder auf den Straßen und was steht in den Broschüren und Büchern? Und viel wichtiger: wie kann man mit seinem Namen unterschreiben?

Die Frauen wollen unbedingt lernen“, sagt Sheetal More, eine Lehrkraft der Schule gegenüber dem der Zeitung 'The Guardian'. „Sie geben mir nie das Gefühl, dass ich sie nicht unterrichten könnte, nur weil ich jünger als sie bin.”

„Die Frauen erzählen mir immer, dass sie später im Himmel nicht noch immer analphabetisch sein wollen”, sagt sie. „Sie sagen dann: ‘Wenn ich Gott treffe, sollte ich zumindest wissen, wie ich meinen Namen schreibe.”

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Die Schule wurde von Yogendra Bangar gegründet. Bangar ist Grundschullehrer und in Maharashtra inzwischen aufgrund seines Engagements eine kleine Berühmtheit. Denn der Grundschullehrer brachte auch sanitäre Anlagen und sauberes Trinkwasser zu all den Familien, die in der Gegend leben.

Der Unterricht bringt einige Großmütter auch dazu, intensiver über ihr Leben nachzudenken. Welche Chancen im Leben hätte sie gehabt, wenn man ihnen die Möglichkeit gegeben hätte, bereits als Kind eine Schule zu besuchen? „Wer weiß, vielleicht wären wir alle Ärztinnen geworden, wenn wir als Kinder zur Schule gegangen wären”, sagt Ramabai, eine Schülerin des Kurses.

Trotz solcher Gedanken macht sich im Klassenzimmer ausschließlich Freude und Hoffnung breit. Bitterkeit sucht man vergebens. Und alle  Großmütter tragen den gleichen farblichen Sari, um ihre Zusammengehörigkeit auszudrücken.

„Nach all den Jahren habe ich endlich eine Chance bekommen”, sagt Schülerin Gangubai. „Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal zur Schule gehen könnte. Und jetzt kann ich sogar das Alphabet lesen.”

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Ein Beitrag von Joe McCarthy