21. März (Thomson Reuters Foundation) – Bevor Russland Ende Februar in die Ukraine einmarschiert ist, stand Oleg jeden Morgen auf, um mit seinen Hunden die breiten, französisch anmutenden Straßen der Hauptstadt Kiew entlangzuspazieren. Er hatte gerade eine Radtour nach Odessa an der Schwarzmeerküste des Landes geplant.

Doch drei Tage, nachdem russische Panzer über die Grenze gerollt waren, begann für den 22-jährigen Bisexuellen, der zuvor als Biersommelier gearbeitet hatte, ein ganz neues Leben: Zusammen mit seinem Vater meldete er sich zum militärischen Dienst.

"Meine Lieblingsorte in Kiew liegen jetzt in Trümmern", sagt Oleg, dessen Mutter und jüngerer Bruder nach Deutschland fliehen konnten – genau wie insgesamt mehr als drei Millionen Ukrainer*innen, die das Land seit dem russischen Einmarsch am 24. Februar verlassen haben.

"Ich versuche, sie jeden Tag anzurufen und mit ihnen zu kommunizieren. Ich vermisse sie sehr, aber ich bin froh, dass sie in Sicherheit sind und sich nicht in Kellern und Bunkern verstecken müssen", sagt Oleg, der seinen Nachnamen aus Sicherheitsgründen nicht nennen wollte.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat Männern zwischen 18 und 60 Jahren die Ausreise verboten und forderte sie auf, für ihr Land zu kämpfen. Auch viele aus der LGBTQIA+ Community sind dieser Aufforderung nachgekommen.

Oleg, a 22-year-old bisexual Ukrainian from Kyiv, took up arms to defend his homeland three days after Russia invaded Ukraine.
Image: Thomson Reuters Foundation/Handout

Schon vor dem Krieg dienten viele queere Menschen in der Ukraine bereits im Militär. Letztes Jahr nahm sogar ein Bataillon am Kiewer Pride-Marsch teil.

In dem mitteleuropäischen Land mit 43 Millionen Einwohner*innen gibt es nach wie vor auch queerfeindliche Einstellungen. Doch Oleg berichtet, dass er in der ukrainischen Hauptstadt offen bisexuell lebe und dort noch "nie auf Ablehnung gestoßen" sei.

Der russische Angriffskrieg, den Moskau als "spezielle Militäroperation" bezeichnet, hat die ukrainische LGBTQIA+ Community erschüttert – auch weil durch Präsident Wladimir Putins Politik massive Rechte der Community in Russland eingeschränkt wurden.

Oleg, der sich im Alter von 19 Jahren geoutet hat und die volle Unterstützung seiner Familie genießt, sagt, er habe sich gezwungen gefühlt, als queerer Mensch für sein Land zu kämpfen, weil er "russische Repressionen" fürchtet.

Tattoos und Taktik

Dmytro, ein*e Übersetzer*in aus Bila Tserkva, Zentralukraine, wollte am Tag nach der russischen Invasion einen Rave besuchen. Stattdessen meldete sich Dmytro für die ukrainischen Streitkräfte. Dmytro bezeichnet sich als nicht-binär. Das bedeutet, ein Mensch identifiziert sich weder als männlich noch als weiblich. 

"Ich wollte eigentlich nie in die Armee gehen. Doch dann ist das alles passiert, und ich habe mich freiwillig gemeldet", sagt Dmytro. Auf den Nachnamen sollen wir aus Sicherheitsgründen verzichten.

Dmytro, a 23-year-old non-binary translator from Bila Tserkva, holds a Molotov cocktail while they show their sparkly white glitter fingernails while serving at the Ukrainian territorial defence forces.
Image: Thomson Reuters Foundation/Handout

Vor dem Krieg arbeitete Dmytro in einem Synchronisationsstudio. Jetzt klingelt um sechs Uhr morgens der Wecker, denn es stehen Training, Taktikunterricht und Schießen auf dem Plan.

Bei der ersten Möglichkeit auf ein paar Stunden Freizeit ließ sich Dmytro das ukrainische Wappen tätowieren.

"Ich habe keine Wochentage mehr", sagt Dmytro. "Wir zählen nur noch die Kriegstage."

In der Ukraine wurde Homosexualität 1991 entkriminalisiert. Doch aufgrund konservativer Einstellungen in der hauptsächlich christlich-orthodoxen Bevölkerung kommt es noch immer zu Ablehnung der LGBTQIA+ Community. Mitglieder der extremen Rechten nehmen zudem regelmäßig Angehörige der Community und ihre Veranstaltungen ins Visier. Die Kiewer Pride-Parade 2015 wurde von gewalttätigen Angriffen überschattet.

Doch im gemeinsamen Krieg hoffen queere Aktivist*innen, dass der Dienst in der Gruppe dazu beitragen kann, Vorurteile abzubauen.

"Der Krieg hat Grenzen zwischen LGBTQIA+ und heterosexuellen Soldat*innen abgebaut", sagt Sofiia Lapina, Gründerin von Ukraine Pride mit Sitz in Kiew.

Dennoch sagt Oleg, er ziehe es vor, seine Sexualität diskret zu behandeln, da er sich vor der negativen Einstellung älterer Mitsoldat*innen fürchte.

"Wir leben und schlafen in einem kleinen Raum", sagt er. "Ich möchte nicht riskieren, ausgeschlossen zu werden."

Dazu kommt, dass auch homophobe Gruppen und Einzelpersonen hätten sich der ukrainischen Armee angeschlossen, sagt Lenny Emson, Direktor von Kyiv Pride, einer in der Hauptstadt ansässigen Gruppe für LGBTQIA+ Rechte.

"Wir haben Nachrichten von rechtsextremen Gruppen erhalten, die uns als Undercover-Agent*innen bezeichnen und uns auffordern, aus dem Land zu fliehen. Sie werfen uns vor, dass wir nichts für die Ukraine tun würden", berichtet Emson.

In Bila Tserkva machte sich Dmytro keine Mühe, den glitzernden weißen Lack von den Fingernägeln zu entfernen.

"Als einer der Ausbilder meine Nägel bemerkte, sagte er zu mir: 'Ich hoffe, du bist nur ein ästhetischer Mensch'", sagt Dmytro. Dem Ausbilder wäre es lieber, Dmytro sei nur auf sein Äußeres bedacht, aber kein*e Angehörige*r der LGBTQIA+ Community.

"Aber dann fügte er hinzu: 'Eigentlich ist es mir egal, wer du bist. Du bist hier, um den Eindringling zu töten, das ist die Hauptsache.'"

Sechs gleichgeschlechtliche Soldat*innenpaare haben sich seit Kriegsbeginn verlobt – einige von ihnen hoffen, dass die Ehe für alle bald legalisiert wird, so die Union of the LGBT Military.

Zuerst den Krieg gewinnen

Doch einige bezweifeln, dass der Hoffnungsschimmer auf wachsende Akzeptanz den Konflikt überdauern wird.

"Wenn der Krieg vorbei ist, werden wir wohl wieder für unsere Menschenrechte kämpfen müssen", sagt Vladislav, ein 25-jähriger schwuler Soldat, gegenüber der Thomson Reuters Foundation in Kiew.

Vlad, a 25-year-old gay soldier in Kyiv, poses with the symbol of the first group of Ukrainian LGBTQ+ soldiers.
Image: Thomson Reuters Foundation/Handout

Laut der Lobbygruppe ILGA-Europe liegt die Ukraine in Bezug auf die Gleichstellung der LGBTQIA+ Community in Europa auf Platz 39. Zwar ist Diskriminierung am Arbeitsplatz verboten, doch heiraten oder Kinder adoptieren können gleichgeschlechtliche Paare nicht.

Eine russische Besatzung könnte die Lage noch verschlimmern, befürchten die Verfechter*innen der Rechte.

Russland, wo ein Gesetz gegen "schwule Propaganda" in Kraft gesetzt wurde, um Pride Paraden zu verbieten und Aktivist*innenen zu verhaften, rangiert laut der ILGA-Europe-Umfrage auf Platz 46 in Europa, was den rechtlichen Schutz von queeren Menschen betrifft.

Vor dem russischen Angriff zitierten ausländische Nachrichtenorganisationen unbenannte US-Beamte, die sagten, Moskau habe eine "Tötungsliste" von Kritiker*innen erstellt, darunter Journalist*innen, Aktivist*innen und Angehörige der LGBTQIA+ Community.

"Wenn es keine Ukraine mehr gibt, dann wird es Repressionen geben. Menschen werden getötet und die Hexenjagd auf queere Menschen wird beginnen", sagt Vladislav.

Borys, ein 26-jähriger ehemaliger Sanitäter, der darum bat, seinen Nachnamen nicht zu nennen, sagt, er wolle sich im Moment lieber auf die Gegenwart konzentrieren.

"Ich spreche nicht viel über die Zukunft, denn sonst wird man verrückt", sagt er in einem Videoanruf aus Kiew. Auch während einer Schichtpause zeigt er sich in seiner Militäruniform. "Zuerst müssen wir den Krieg gewinnen... Und dann können Sie mich wieder anrufen und wir werden über die Zukunft sprechen."

(Berichterstattung durch Enrique Anarte in Berlin @enriqueanarte; Redaktion: Helen Popper und Hugo Greenhalgh. Bitte die Thomson Reuters Foundation benennen, die Wohltätigkeitsstiftung von Thomson Reuters, die über das Leben von Menschen auf der ganzen Welt berichtet, die um ein freies oder gerechtes Leben kämpfen. http://news.trust.org)

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Die ukrainische LGBTQIA+ Community kämpft für ihr Land und ihre Rechte