Zwischen dem Jahr 2010 und 2011 bin ich auf die griechische Insel Lesbos geflogen, um zusammen mit anderen Aktivist*innen bei der Aufnahme und Unterstützung von Geflüchteten zu helfen. Zu dem Zeitpunkt waren überwiegend Kinder und Jugendliche dort. Viele von ihnen gehörten den Hazaras an, einer schiitischen Minderheit in Afghanistan, die neben den Frauen am meisten unter der afghanischen Regierung leiden. Bevor sie nach Lesbos kamen, haben sie im schiitischen Iran als Geflüchtete gelebt. Dort haben sie als Minderheit keine Rechte, können nicht in die Schule gehen und sind ganz einfach nicht sicher.

In den vielen Gesprächen mit den Jungen hörte ich immer wieder den Wunsch nach einem ruhigen und sicheren Leben heraus. Viele warteten Jahre auf einen Asylbescheid, wurden in der Zeit erwachsen – und gebrochener. Zurückgehen war schier unmöglich, viele Familien setzen ihr ganzes Erspartes auf eine Karte, damit eine*r es nach Europa schafft und Geld verdient, um so alle zu unterstützen. 

Zurück in Berlin bekomme ich immer wieder mit, was das Warten auf Bescheide mit den Menschen macht. Das kann sich hier kaum jemand vorstellen, aber wenn du jahrelang nicht weißt, wie oder wo es weitergeht, du nicht ankommen, nicht arbeiten, nicht Teil einer Gesellschaft werden darfst, dann zerbricht etwas in dir. Zudem liegen die Unterkünfte oftmals isoliert und fast jeder Bereich deines Lebens wird fremdbestimmt.

Im Oktober 2022 bin ich wieder an eine EU-Außengrenze gefahren, um mir einen Überblick über die derzeitige Situation zu verschaffen. Dieses Mal lerne ich Menschen auf der griechischen Insel Samos kennen.

Selbstgemachte humanitäre Hilfe für Geflüchtete auf Samos

Ich treffe Julia von selfm.aid, einer selbstorganisierten NGO aus der Schweiz. Hier hat sie zusammen mit ihrem Mann Simon 2021 das Projekt Skills Factory aufgebaut. Beide haben mehrere Jahre in unterschiedlichen NGOs gearbeitet, sie ist ursprünglich Sozialarbeiterin, er gelernter Maurer und Baupolier.

Nach Samos sind sie ursprünglich gekommen, um für eine andere Organisation zu arbeiten, merkten aber, dass sie sich mit ihrer Arbeitsweise nicht mehr identifizieren konnten. Traditionell werden in der humanitären Hilfe zu oft Programme entwickelt, ohne die Menschen, die betroffen sind, mit einzubeziehen. Sie finden sich dabei in der Rolle der “Nehmenden” – müssen sich anstellen, warten, können nicht mitentscheiden. Es entsteht eine Abhängigkeit, eine Art Teufelskreis.

Essen wird auf den griechischen Inseln für die Geflüchtetencamps beispielsweise so organisiert: Es wird auf dem Festland produziert, in Plastik verpackt, nach Samos verschifft, schmeckt fürchterlich und reicht nicht. Oft entsteht dadurch Streit unter den Menschen. Die Fähigkeiten der Geflüchteten und die Rohstoffe der Insel werden dabei nicht in Betracht gezogen – dabei bietet Samos so viel Potential zum Selbermachen, Anbauen, Bepflanzen. Durch das Selbermachen entsteht aber nicht nur eine Unabhängigkeit, sondern ermöglicht auch persönliche Begegnungen, um voneinander zu lernen. 

Julias und Simons Vision ist es, humanitäre Hilfe selbst herzustellen. Sie soll eigenhändig, lokal, nachhaltig, unabhängig und vor allem ehrlich sein. Überall dort, wo Menschen unter existenziellen Nöten leiden und Grundbedürfnisse nicht mehr gedeckt werden können, bestärken sie Betroffene, sich dank der Nutzung und Verarbeitung lokaler Ressourcen selbst zu helfen und den Teufelskreis der Abhängigkeit zu durchbrechen.

Die Skills Factory von Julia und Simon.
Image: Abdo M.

Im Januar 2021 wurde der Verein gegründet, im März 2021 haben sie alle, wirklich alle, die sie kannten, angeschrieben und um Spenden gebeten. Ein Tsunami der Solidarität wurde ausgelöst, so viele Spenden, Möglichkeiten zum kostenlosen Marketing und Freiwillige als Vereinsmitglieder kamen zusammen. Innerhalb von zwei Wochen wurde das Grundstück, eine ehemalige Gerberei, direkt am Hafen von Samos gemietet und renoviert. 

Anfangs herrschte absolutes Chaos. Entstanden ist dann in Teamwork mit Menschen aus den Camps eine wahnsinnig einladend wirkende Factory mit verschiedenen Departments: Ein Nähatelier, Werkstatt für Elektroreparatur, eine Schmiede und Schreinerei. Das Ganze hat mich sehr an den Aktivismus des Selbermachens meines Vereins Flamingo erinnert. 

Menschen wie Farzad leben mehrere Jahre im Camp und werden “geduldet”

In der Skills Factory treffe ich auf Farzad*. Er lebt seit sieben Jahren auf Samos und stammt aus dem Norden Irans. Mit über 50 anderen Menschen auf der Flucht kam er in einem Boot aus der Türkei hier an. Ich frage ihn, warum er aus dem Iran geflohen sei. 
Er erzählt mir seine Geschichte. 

Er war Arbeiter im Iran, hatte viele kleinere Aufträge und Hilfeleistungen übernommen, hatte auch mal in meiner Geburtsstadt Bandar-Abbas gearbeitet. Er sagt, es sei eine wunderschöne Stadt, die Menschen seien so freundlich. 

Dann hat er im Norden für eine christliche Familie als Auftrag ein Kreuz gebaut. 
Das bekamen die Pasdaran (die Polizei) mit und sperrten ihn direkt ins Gefängnis. 
Sein Vergehen: Als Muslime ein christliches Symbol zu bauen.  

Die Familie wurde nicht bestraft, da sie Christen waren. Sie versuchten, ihm zu helfen, hatten aber keine Chance gegen das Regime. Farzad saß über drei Jahre im Gefängnis und wurde gefoltert. Die Finger und Fußnägel wurden abgerissen, er bekam Elektroschocks verpasst. 

Einmal musste er vom Gefängnis aus ins Krankenhaus gebracht werden, weil einige Folterwunden nicht heilen wollten. Seine Mutter beauftragte in diesem Zeitfenster einen Anwalt, der ihn für ein noch kleineres Zeitfenster gegen eine Kaution rauslassen sollte, damit er fliehen konnte. Es war der einzige Weg, nicht zu sterben. Er hätte noch viele Jahre sitzen müssen und durch die Folter wäre es eher unwahrscheinlich, dass er jemals lebendig entlassen werden würde. 

Farzad zeigt mir seine Halskette: ein Kreuz. Er sagt, er ist in Griechenland Christ geworden. Als er hier ankam, hatte er kein Geld für einen Anwalt. Er wird jetzt quasi seit sieben Jahren geduldet, hat fast zwei Jahre in dem alten Camp auf Samos gelebt. 

Seit es die Skills Factory gibt, ist er mit dabei und ein Teil von ihr. Er ist der erste, der kommt und der Letzte, der geht. Er hat ein kleines Zimmer am Hafen, was ihm über eine NGO finanziert wird. Er lebt derzeit von 100 Euro Spende im Monat. Warmes Essen kriegt er in der Skills Factory umsonst. (Nicht als Service, es gehört der Philosophie der Gemeinschaftlichkeit von selfm.aid an).

Wenn er nicht in der Skill Factory hilft und arbeitet, geht er gerne angeln und sitzt am Meer. Manchmal hat er schwierige Tage, da sind die Erinnerungen, die unmenschliche Behandlung, so präsent. Im Februar erhält er eine Einladung vom Gericht in Athen. Er hat große Angst. Sie bieten ihm an, weiter zu ziehen – nach sieben Jahren warten nach drei Jahren Folter. Er weiß nicht, wohin. Er hat in der Skills Factory eine neue Familie gefunden. Er will auf Samos bleiben. 

Anuscheh mit Julia von selfm.aid und Farzad auf Samos.
Image: Abdo M.

Ich bin sicher, die Kinder werden es schaffen, das iranische Regime zu stürzen

Die iranische Regierung repräsentiert das barbarischste und faschistischte System, das ich kenne. Ich kann nicht zusehen, wie Menschen gedemütigt werden, wie sie systematisch kaputt gemacht werden. Ich hasse die Verlogenheit von denen, die sich Menschenrechte auf die Fahne geschrieben haben und sie doch nicht einhalten – wie viele der europäischen Länder. Ich kämpfe mit den Tränen, denn manchmal weiß ich nicht, was mieser ist: Menschenrechte so zu missachten, wie es die Regierung Irans tut, oder sie zu hintergehen, wie es von Europa getan wird. 

Dann frage ich Farzad, ob er zurückgehen würde in den Iran, wenn die Frauen und Männer, die Kinder eigentlich, die gerade ihr Leben riskieren und verlieren, es wirklich schaffen sollten, das Regime zu stürzen. Ich weiß es, sie werden es dieses Mal schaffen. Die Frage ist nur, wie viele dafür sterben müssen. Kinder. Teenager. Folter. Vergewaltigungen. 

Farzad denkt nach und ich sehe nicht wirklich Hoffnung, aber er sagt, er würde gerne in sein Heimatland zurückkehren. Würde er jetzt gehen, würden sie ihn direkt hinrichten. Aber wenn sich wirklich was ändern sollte, will er schon gerne zurück. 

Wir verabreden uns in ein bis zwei Jahren auf einen Kaffee in Bandar-Abbas. Ich werde Blumen mitnehmen und an das riesige Denkmal der gefallenen Held*innen legen, den Kindern, Teenagern und jungen Erwachsenen dieser Revolution. 
Sie sind alle Jina Mahsa Amini.

Pushbacks und das Kriminalisieren von Erste-Hilfe-Maßnahmen

Im Gespräch mit den Aktivist*innen will ich mehr zu den Pushbacks und dem Kriminalisieren von Erste-Hilfe-Maßnahmen wissen. Wenn Menschen aus dem Sudan, Afghanistan, Syrien, Iran,... über die Türkei weiter nach Europa fliehen wollen und müssen und kein Geld für sicherere Routen haben, bleibt ihnen nur der Weg über das Mittelmeer zu einer der griechischen Inseln wie Samos. 

Wenn die Wellen es zulassen, kommen sie an und müssen aufpassen – vor der Polizei und vor scharfen Felsen. Seitdem bekannt ist, dass die griechische Polizei Pushbacks unternimmt, also Migrant*innen nach der Ankunft auf griechischen Inseln verhaftet und wieder in die Türkei zurückführt, ohne die Möglichkeit, einen Antrag auf Asyl zu stellen, versuchen viele der Ankommenden sich direkt aufzuteilen und in den umliegenden Wäldern zu verstecken. 

Sie versuchen sich direkt im Camp zu registrieren oder hoffen darauf, dass MSF (Ärzte ohne Grenzen) sie vor der Polizei findet. Denn das ist die einzige Organisation, die momentan erste Hilfe leisten darf, ohne kriminalisiert zu werden. Andernfalls werden sie verhaftet, nicht selten ausgeraubt und misshandelt und direkt wieder in ein Schiff der griechischen Küstenwache gesetzt, das sie zurück an die türkische Küste bringt. Dort werden sie auf kleinen Float-Rettungsbooten (ohne Motor) rausgelassen. 

Es kommt vor, dass Menschen auch einfach ohne Boot ins Wasser geworfen werden, ohne Westen, unabhängig davon, ob sie schwimmen können oder nicht oder dass ihr Schlauchboot auf Felsen trifft und dann kaputt geht. Viele, die in der Skills Factory arbeiten, haben mehrere Anläufe unternommen, um nach Europa zu gelangen. Einige haben es auch schon geschafft, wurden aber wieder zurückgebracht. Daher wissen sie auch von diesen Pushbacks und dass diese nicht selten tödlich verlaufen. 

Im Sommer 2022 haben sich zehn Frauen im Wald auf Samos versteckt, sechs davon waren schwanger. Sie haben mehrere Tage in der Hitze ohne Trinkwasser verbracht, aus Angst und Verzweiflung. Eine Frau ist auf der Nachbarinsel Chios verdurstet, weil sie sich versteckt hatte aus Angst, erwischt und zurückgeschickt zu werden.

“Es ist ein Menschenrecht, Asyl zu beantragen.”

“Kein Mensch macht sowas freiwillig”, erklärt Julia von selfm.aid. “Ja, es wird immer wieder gesagt, dass nicht genug Platz für alle ist und wir ja nicht alle aufnehmen können. Aber Fakt ist: Es ist ein Menschenrecht, Asyl zu beantragen. Und eben das ist hier nicht mehr gegeben. Es ist jetzt für die Menschen eine Art Roulette. Entweder ich habe das Recht darauf, Asyl zu beantragen oder ich werde wieder zurückgebracht. Die EU kritisiert immer alle anderen Regierungen bei Menschenrechtsverletzungen, als habe der Westen heilige Werte, dabei verhalten sie sich selbst höchst kriminell, ohne jegliche Konsequenzen.“

In Griechenland wird gesagt, sie haben fünf Inseln geopfert, um der EU beizustehen. Auf ihnen wurden Geflüchtetencamps aufgebaut, wie Moria auf Lesbos. Auf Samos ist es anders, das neue Camp ist weit im Inland, es braucht Busse für Anbindung an den Hafen oder die Skills Factory. Die Zustände sind schrecklich: das Essen reicht nicht, das Wasser ist bedingt eingeschaltet, alle Schritte werden fremdbestimmt. 

Jetzt kommt der Teil, der mich am meisten beschäftigt, der für mich nicht fassbar oder begreifbar ist. Der, der alles in Frage stellt, was ich leben will, was ich meinen Kindern erzählen muss irgendwann:

Wenn an der Küste, am Hafen ein Mensch ankommt, schwer verletzt ist, kaputt und völlig fertig, durstig und voller Angst, wenn dieser Mensch also offensichtlich erste Hilfe benötigt, darf ihm derzeit nicht geholfen werden. Jegliche Unterstützung wird als Schmuggel angesehen und ist per Gesetz strafbar. Zuerst müssen alle Behörden informiert werden. Wenn also nicht nachweisbar ist, dass vor der ersten Hilfe Behörden darüber in Kenntnis gesetzt wurden, bei Sichtung eines Bootes mit Geflüchteten, wird es als kriminelle Straftat behandelt. Das bedeutet auch, dass Trinkwasser anbieten verboten ist. 

Stell dir vor, du bist dieser Mensch. Und dir wird diese Hilfe verweigert. 

*Name zum Schutz der Person geändert.

In My Own Words

Gerechtigkeit fordern

Soll das, was täglich am Mittelmeer passiert, Teil unserer Geschichte sein?

Ein Beitrag von Anuscheh Amir-Khalili