Während vielen von uns bewusst sein dürfte, dass Sklaverei nicht der Vergangenheit angehört, sondern auch heute noch existiert – und zwar in jedem einzelnen Land der Welt – stellt sich dennoch die Frage: Wie viel wissen wir tatsächlich darüber? Und haben wir wirklich verstanden, dass wir alle Berührungspunkte mit Sklaverei haben?
Heute leben etwa 40 Millionen Menschen weltweit in moderner Sklaverei.
Wenn wir einen Moment innehalten, um uns diese Zahl zu verdeutlichen, sollte uns das schockieren. Dafür müssen wir damit beginnen, die Menschen hinter den Statistiken zu sehen.
Menschen wie Chandramma aus Indien, die mit ihrem vierjährigen Sohn sechs Monate lang in einer engen Kammer eingesperrt war. Nachdem sie täglich 16 Stunden lang in einer Seidenfabrik arbeitete, musste sie sich entscheiden, wie sie die ihr am Tag zustehenden zwei Liter Wasser verwenden sollte: Entweder zum Trinken für sich und ihr Kind oder um ihren Sohn zu waschen, der sich bereits einige Wunden zugezogen hatte.
Ein im Oktober von der Menschenrechtsorganisation Walk Free veröffentlichter Bericht gibt an, dass weltweit eine von 130 Frauen und Mädchen in Sklaverei lebt. Diese erschütternde Zahl ist noch schwerer zu verkraften, wenn wir uns bewusst machen, dass jede*r von uns unfreiwillig zu Sklaverei beiträgt. Doch es gibt auch Hoffnung.
Denn der erste Schritt, um Sklaverei entgegenzuwirken, ist, ihre Existenz anzuerkennen. Sobald wir die Ausmaße kennen, können wir Teil des Wandels sein. Deshalb ist es enorm wichtig, zu verstehen, dass die Handys, die wir nutzen, die Nahrung, die wir essen und die Sachen, die wir tragen, alle eine Form der Zwangsarbeit in ihrer Herstellung enthalten können. Die Top fünf Produkte, die etwa in Großbritannien besonders gefährdet sind, eine Form der Sklaverei in ihrer Lieferkette zu haben, sind: Technik, Textitlien, Fisch, Kakao und Kaffee (Quelle: Global Slavery Index). Laut der Initiative für fairen Handel Ethical Trading Initiative vermuten über 77 Prozent aller britischen Firmen moderne Sklaverei in ihren Lieferketten.
Die Gute Nachricht: Wir können etwas dagegen tun. Wenn wir gemeinsam aktiv werden – von Betroffenen zu Unternehmen, Regierungen bis zu jedem einzelnen von uns – können wir Sklaverei beenden.
Um Chandramma und ihren Sohn aus der Sklaverei zu befreien, hat die Menschenrechtsorganisation International Justice Mission (IJM) mit lokalen Behörden zusammengearbeitet. Seit ihrer Rettung setzt sich Chandramma unermüdlich gegen Sklaverei und Schuldknechtschaft ein. So ist sie der lokalen Organisation Released Bonded Labourers Association beigetreten, die mit Behörden zusammenarbeitet, um Betroffene wie sie zu befreien und einen langfristigen Wandel herbeizuführen.
Durch die Zusammenarbeit mit Behörden bei der Suche und Freilassung von Menschen in Sklaverei und indem die Verantwortlichen für die Sklaverei verstärkt zur Rechenschaft gezogen werden, konnte IJM in einigen Gebieten einen Rückgang der Sklaverei um bis zu 86 Prozent verzeichnen.
Wir glauben fest daran, dass ein Ende der Sklaverei möglich ist – und dass der Kampf für die Freiheit jetzt besonders dringlich ist.
Denn aufgrund der COVID-19-Pandemie sind viele Menschen wegen finanzieller Engpässe besonders anfällig für Menschenhändler geworden. Laut Schätzungen der Weltbank könnten über 49 Millionen Menschen dieses Jahr in Armut abrutschen. Schon jetzt beobachten wir, wie skrupellose Menschenhändler andere, die durch die Krise ihre Arbeit verloren haben,verstärkt in die Falle locken und festhalten.
"Viele Unternehmen haben Kinderarbeiter und junge Menschen für die Arbeit in Webereien angeworben, indem sie ihnen falsche Versprechungen machten", erklärt ein Mitglied des IJM-Teams. "Da viele Familien aufgrund des Wegfalls von Arbeitsplätzen oder Arbeitsmöglichkeiten Schwierigkeiten haben, über die Runden zu kommen, fallen viele diesen vermeintlich lukrativen Angeboten zum Opfer.”
So auch im Fall der 35 jungen Mädchen und drei jungen Frauen, die in diesem Sommer in einer Spinnerei in Zwangsarbeit gefangen gehalten wurden.
Da ihre Familien sich kaum mehr versorgen konnten, boten die Fabrikbesitzer diesen jungen Frauen eine feste Anstellung an, bis die Schulen wieder geöffnet würden. In Wirklichkeit wurden sie dann gezwungen, kräftezehrende 14-Stunden-Tage ohne Pausen durchzuarbeiten und zudem in der Fabrik festgehalten. Sie durften ihre Eltern nicht kontaktieren, und wenn sie krank wurden, konnten sie nicht zu einem richtigen Arzt oder Ärztin gehen – sondern bekamen nur unbekannte Medikamente von den Fabrikbesitzern ausgehändigt.
Ein Glück konnten diese Mädchen und jungen Frauen aus der Fabrik befreit und nun in Sicherheit gebracht werden. Aber während du das hier liest, suchen Menschenhändler irgendwo auf dieser Welt nach weiteren und immer neuen Möglichkeiten, um verletzliche Menschen auszubeuten.
In diesem Moment befindet sich die Welt an einem fragilen Wendepunkt, und es liegt an uns, die Ausbeuter*innen davon abzuhalten, diesen Kampf zu gewinnen.
Wir alle haben jetzt die einmalige Möglichkeit, uns zu entscheiden, wie wir die Welt nach COVID-19 gestalten möchten. Wenn wir jetzt aktiv werden, um die Ärmsten der Welt zu schützen und eine gerechtere Welt nach der Pandemie aufzubauen, könnte ein positiver Wandel aus der COVID-19-Krise hervorgehen.
Dafür müssen wir heute eine Entscheidung treffen. Wir müssen uns hinter Überlebende wie Chandramma stellen und uns gegenüber Unternehmen und Regierungen Gehör verschaffen: Darüber, dass es uns wichtig ist, Sklaverei ein Ende zu bereiten und Ausbeutung zu stoppen.
Du kannst diese bessere Zukunft mitgestalten. Vielleicht bedeutet das in deinem Fall, dich mehr über moderne Sklaverei in Lieferketten zu informieren, indem du deine Lieblingsfirmen direkt fragst, welche Maßnahmen sie gegen Sklaverei in ihrer Herstellung treffen. Oder indem du eine Hilfsorganisation unterstützt, die Sklaverei bekämpft, oder einem lokalen Abgeordneten schreibst. Vielleicht kommst du auch einfach mit den Menschen in deinem Umfeld über diese Probleme ins Gespräch.
Mehr zu moderner Sklaverei und wie du dagegen aktiv werden kannst, erfährst du hier.