Ehrenmorde beenden: So trugen Global Citizens dazu bei, in Pakistan ein wichtiges Gesetz auf den Weg zu bringen

Autor*innen: Daniele Selby und Leah Rodriguez

Photo Illustration by Raef Payne, Photos by Getty Images

Als Lidalia Encarnacion, eine 31-jährige New Yorkerin, vor drei Jahren vom Mord der pakistanischen Feministin Qandeel Baloch erfuhr, war sie geschockt.

“Sie hatte einfach nur ein ganz gewöhnliches Selfie geteilt“, sagt Encarnacion, die in der Musik- und Eventbranche arbeitet, gegenüber Global Citizen.

Die 26-jährige Qandeel Baloch war in Pakistan ein Social-Media-Star und galt dort als “pakistanische Kim Kardashian“. Sie war bekannt dafür, mit Traditionen zu brechen und etwa Fotos zu posten, auf denen sie “freizügig“ gekleidet war oder mit Schmollmund posierte. Eine besonders kontrovers diskutierte Reihe von Selfies war möglicherweise Grund für ihren Tod. 

Qandeel Baloch.

Qandeel Baloch.
Photo by Asim Tanveer/AP

Qandeel Baloch.

Qandeel Baloch.
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Qandeel Baloch.

Qandeel Baloch.
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Qandeel Baloch.

Qandeel Baloch.
Photo by Asim Tanvee/AP

Im Juni 2016 traf sich Baloch mit Abdul Qavi, zu dieser Zeit Religionsführer und hochrangiger Politiker. Von diesem Treffen gibt es ein Video, auf dem sie mit ihm zu flirten scheint und sich Qavis Hut aufsetzt. Die Aufnahmen, die als sexuell provozierend empfunden wurden, brachten Baloch heftige Kritik ein.

Das “skandalöse” Treffen und die Aufnahmen machten Baloch in ganz Pakistan zum Gesprächsthema. Laut Aussage ihres Bruders Waseem Azeem brachte sie damit Schande über ihre Familie. Familienangehörige sollen ihn gedrängt haben, die Ehre der Familie wiederherzustellen, die in ihren Augen durch das Treffen mit Qavi “befleckt” worden war.

Am 16. Juli 2016 betäubte und erdrosselte Azeem seine Schwester im Namen der so genannten “Ehre” in Haus der Familie.

Qavi verlor durch den Skandal seine Stelle. Baloch verlor ihr Leben.

Ihre tragische Geschichte warf ein Schlaglicht auf die in Pakistan herrschende Geschlechterungleichheit und erregte weltweit Aufmerksamkeit und sorgte für Empörung. Als Lidalia, selbst Mutter eines Kindes, den Tweet von Global Citizen über den Mord an Baloch las, war sie geschockt. Für sie – und für viele andere – war es das erste Mal, dass sie von einem Problem hörte, mit dem Pakistan seit Jahrzehnten kämpft: Ehrenmorde.

Lidalia war klar, dass sie etwas unternehmen muss.

I. Was sind Ehrenmorde?

Nach Schätzungen der Vereinten Nationen (UN) werden pro Jahr 5.000 Frauen Opfer eines Ehrenmordes. Sie werden getötet, um “die Familienehre wiederherzustellen”, wenn durch den Verstoß gegen gesellschaftliche Normen “Schande“ über eine Familie oder Gemeinschaft gebracht wurde.

Menschenrechtsorganisationen gehen davon aus, dass sich die Zahl der Ehrenmorde in Pakistan und Indien auf jeweils 1.000 pro Jahr beläuft. Ehrenmorde werden aber auch in den Vereinigten Staaten, in Großbritannien, Jordanien, Afghanistan und mindestens einem Dutzend weiterer Staaten gemeldet.

Es gibt keine Religion, die Ehrenmorde befürwortet oder rechtfertigt. Am stärksten sind Ehrenmorde in Gemeinschaften und Kulturen verbreitet, in denen Frauen als Besitz gelten und sich ihr Wert über ihre Jungfräulichkeit und Keuschheit definiert.

Frauen, die in solchen Kulturen gegen gesellschaftliche Normen und Erwartungen verstoßen – etwa durch ihre Kleiderwahl, ihre Bildung, ihre Arbeit oder die Wahl ihres Partners, vorehelichen oder außerehelichen Sex oder sexuell provokantes Verhalten wie in Balochs Fall –, werden unverhältnismäßig oft Opfer von Ehrenmorden. Zudem sind sie im Namen der Ehre anderen Formen von Gewalt ausgesetzt, wie etwa Säureattacken oder Zwangsverheiratung.

“An vielen Orten in der Welt […] ist eine Heirat keine Verbindung zwischen zwei einzelnen Menschen, sondern zwischen zwei Familien und ein wirtschaftliches Arrangement“, erklärt Yasmeen Hassan, Global Executive Director der gemeinnützigen Organisation Equality Now, gegenüber Global Citizen. “Wenn Frauen und Mädchen also eine eigene Wahl treffen und selbst ihren Ehemann aussuchen, dann nimmt das ihren Familien die Möglichkeit, über die strategische Vergrößerung ihrer Familie zu entscheiden.”

Es kommt zwar auch vor, dass Männer Opfer von Ehrenmorden werden, in der überwiegenden Zahl der Fälle sind es jedoch Frauen. Bei den männlichen Opfern handelt es sich in der Regel um die Partner von Frauen, die “Schande“ über die Familie gebracht haben.

“In sehr seltenen Fällen fällt die Schande auf die Familie des Mannes, der mit der Frau geflohen ist. Meist empfindet die Familie der Frau dies als Schmach und Befleckung der Familienehre, weil die Frau ihr Eigentum war, das ihnen weggenommen wurde“, sagt Hassan.

Die einzige Möglichkeit, die “Ehrverletzung“ aus der Welt zu schaffen und die Ehre wiederherzustellen, ist nach Auffassung dieser Familien der Ehrenmord. Täter ist meist der Vater, ein Onkel, der Ehemann, mitunter aber auch die Mutter des Mädchens oder der Frau, die aus Sicht der Familie die Familienehre beschädigt hat.

Views on Honor Killings in Pakistan

Views on Honor Killings in Pakistan

Views on Honor Killings in Pakistan

Views on Honor Killings in Pakistan

Views on Honor Killings in Pakistan

Views on Honor Killings in Pakistan

Views on Honor Killings in Pakistan

Views on Honor Killings in Pakistan

II. Lidalia wird aktiv

“Ich konnte nicht fassen, dass Frauen in ihren eigenen Wänden in Angst leben. In Angst vor ihrer Familie“, so Lidalia Encarnacion. 

Sie kann nicht begreifen, dass “Fehler, die Frauen angeblich begehen … als Schande für ihre Familie gelten, und die Ehre damit wiederhergestellt werden soll, dass die Frau ermordet wird“.

Encarnacion sagt, sie könne sich nicht vorstellen, als Frau in einer solchen Lage zu sein und wollte nicht hinnehmen, dass sich überhaupt eine Frau in solch einer Lage befindet. Deshalb wurde sie aktiv.

Zum ersten Mal hörte sie von Global Citizen, als ein Freund einen Link zum Global Citizen Festival 2012 teilte. Nie zuvor hatte sie eine Petition unterzeichnet oder sich politisch engagiert. Weil sie Tickets für das Festival gewinnen wollte, tat sie das jetzt zum ersten Mal.

Besonders stark in Erinnerung geblieben ist ihr eine Aktion zur Verbesserung des Zugangs zu Wasser und sanitären Einrichtungen in der Nähe ihrer früheren Heimat. Vor ihrer Übersiedlung in die USA im Alter von sieben Jahren hatte Lidalia Encarnacion im mexikanischen Guerrero gelebt. Dort war der Zugang zu sauberem Wasser für sie und ihre Familie nicht immer leicht, wie sie sagt.

In den folgenden Jahren engagierte sich Lidalia weiter und setzte sich regelmäßig für Frauenrechte und Bildung ein – das Thema Bildung liegt ihr als Mutter eines zehnjährigen Sohnes besonders am Herzen. Nachdem sie beschlossen hatte, aktiv zu werden, tat sie das voller Überzeugung und Begeisterung und konnte auch ihre Schwester überzeugen, bei Global Citizen aktiv zu werden. 

Als Lidalia 2016 von Balochs Schicksal erfuhr, unterschrieb sie eine Petition, die den seinerzeit amtierenden pakistanischen Premierminister Nawaz Sharif aufforderte, sein Versprechen einzulösen, für das Ende von “Ehrenmorden” in seinem Land zu sorgen.

Rund 25.000 Menschen unterschrieben diese Petition, die Teil einer Kampagne gegen Ehrenmorde in Pakistan war. Leticia Pfeffer, Senior Manager für Global Policy und Government bei Global Citizen, hatte diese Kampagne rein zufällig nur wenige Tage vor der Ermordung Balochs initiiert.

Folgt man den Aktivist*innen, ist die Kampagne Teil einer Reihe größerer Events, die zusammen mit dem von Global Citizens ausgeübten Druck letztlich bewirkte, dass die pakistanische Regierung handelte.

Offiziell stehen Ehrenmorde in Pakistan seit 2004 unter Strafe. Weil sich die kulturellen Normen seitdem jedoch nicht geändert haben und es zudem eine Gesetzeslücke gibt, blieben die Täter bisher meist straffrei. Dazu mussten sie die Familie des Opfers lediglich um Vergebung bitten. So kam es weiterhin zu Ehrenmorden.

Drei Monate nach Balochs Tod verabschiedete Pakistan ein Gesetz gegen Ehrenmorde, das diese Lücke schloss. Der Gesetzesentwurf hatte dem Parlament bereits seit einem Jahr vorgelegen. Aber erst die Empörung über den Mord an Baloch und der internationale Druck bewirkten, dass das Gesetz verabschiedet wurde.

III. Die Lage in Pakistan

Ehrenmorde gibt es an zahlreichen Orten in der Welt, in Pakistan ist das Problem jedoch besonders gravierend.

Pro Jahr fallen in Pakistan offiziell 1.000 Menschen Ehrenmorden zum Opfer. Es ist jedoch von einer hohen Dunkelziffer auszugehen. Verlässliche statistische Zahlen gibt es nicht, weil Ehrenmorde häufig als andere Delikte fehlgedeutet, vertuscht oder schlichtweg nicht erfasst werden.

A woman speaks during an interview in the Ghotki district of Sindh, Pakistan, in December 2014. Her spouse accused her of having an affair, an offense that as many as 40 percent of Pakistanis believe would entitle him to execute her.
A woman speaks during an interview in the Ghotki district of Sindh, Pakistan, in December 2014. Her spouse accused her of having an affair, an offense that as many as 40 percent of Pakistanis believe would entitle him to execute her.
Image: Asim Hafeez/Bloomberg/Getty Images

Bereits seit Jahren setzen sich Aktivist*innen für eine Verschärfung der Gesetze und deren Durchsetzung ein, um weitere Gewalt gegen Frauen zu verhindern. 2016 schien endlich Bewegung in die Sache zu kommen.

Im Februar des Jahres gewann die pakistanische Filmemacherin und Aktivistin Sharmeen Obaid-Chinoy für A Girl in the River: The Price of Forgiveness den Oskar in der Kategorie bester Dokumentar-Kurzfilm. Der Film erzählt von der 19-jährigen Saba Qaiser, die einen brutalen Ehrenmordversuch überlebt. Ihr Vater und ihr Onkel hatten ihr ins Gesicht geschossen und sie dann in einen Fluss geworfen, nachdem sie erfahren hatten, dass Saba ohne die Einwilligung der Familie geheiratet hatte.

“Ich hielt es für wichtig, die Geschichte einer Überlebenden zu erzählen“, sagte Obaid-Chinoy Global Citizen. “Das ist äußerst schwierig, weil es kaum Überlebende gibt und die Opfer nicht in beschrifteten Gräbern liegen.”

„Erstmalig wird jetzt in ganz Pakistan über Ehrenmorde diskutiert“, fährt sie fort.

Durch den weltweiten Erfolg des Films erlangte das Thema Ehrenmorde auch auf internationaler Ebene öffentliche Aufmerksamkeit. Tatsächlich war dieser Film der Auslöser dafür, dass Lidalia Encarnacion sich eingehend mit dem Thema auseinandersetzte.

Am 8. März 2016, dem Internationalen Frauentag, einen Monat nach der Oscar-Verleihung an Obaid-Chinoy, startete die Global Citizen-Kampagne #LeveltheLaw. Ziel dieser Kampagne ist die Abschaffung und Änderung von Gesetzen, die Frauen und Mädchen diskriminieren. Am 11. Juli startete eine an die Regierung Pakistans gerichtete Petition für die Abschaffung von Ehrenmorden. Global Citizens unterzeichneten die Petition umgehend, um sich solidarisch mit Obaid-Chinoy zu zeigen. Die Filmemacherin ist Beiratsmitglied von CHIME for CHANGE, einer Initiative, die mit Unterstützung der Gucci Foundation von Salma Hayek Pinault und Beyoncé Knowles-Carter mitbegründet wurde.

Die Kampagne für die Abschaffung von Ehrenmorden in Pakistan wurde gemeinsam mit der Organisation Equality Now gestartet. Equality Now setzt sich seit 1992 dafür ein, dass Regierungen für die Einhaltung der internationalen Menschenrechtsnormen zur Rechenschaft gezogen werden. Die Organisation war in Ländern wie Pakistan tätig und kritisierte Gesetze in Regionen mit diskriminierender Gesetzgebung. Damit will die Organisation die Rechte von Frauen und Mädchen stärken und dazu beitragen, dass Gesetze zur Durchsetzung der Geschlechtergleichheit zur Norm werden.

Vier Tage nachdem Global Citizen in einer Kampagne öffentlich die Abschaffung von Ehrenmorden gefordert hatte, sorgte der Mord an Baloch für internationale Schlagzeilen und machte eindringlich deutlich, wie dringend gehandelt werden muss. 

Im Lauf des Jahres 2016 wurden Global Citizens mehr als 250.000 Mal aktiv: Im Rahmen der Hauptkampagne #LeveltheLaw von Global Citizen forderten sie Regierungen auf, geschlechtsbasierte diskriminierende Gesetze zu ändern, darunter Gesetze, die den Fortbestand von Ehrenmorden, Kinderehen und Gewalt gegen Frauen ermöglichen.

In mehr als 90 Prozent aller Länder gibt es laut Weltbankgruppe mindestens ein Gesetz, das Frauen diskriminiert – indem es beispielsweise den Zugang von Frauen zu Schutz gegen häusliche Gewalt oder ihr Recht einschränkt, Eigentum zu besitzen oder ohne die Erlaubnis ihres Ehemanns zu arbeiten. Letztlich verhindern derartige Gesetze, dass Frauen und Mädchen ihre grundlegenden Menschenrechte ausüben können.

“Wir wissen, dass Gleichheit vor dem Gesetz der erste wichtige Schritt ist – und definitiv kein Allheilmittel im Kampf für Ermächtigung von Frauen. Aber wenn wir Chancengleichheit für alle erreichen möchten, dann funktioniert das nicht ohne Gesetze für die Gleichstellung von Mann und Frau, Gesetze, die allen denselben Schutz bieten“, so Pfeffer.

In Bezug auf die Ehrenmorde in Pakistan unterstützten und stärkten die Aktionen von Global Citizen die Forderungen von Aktivist*innenen vor Ort, die bereits seit Jahren daran arbeiten, in dieser Frage einen Wandel einzuleiten.

“Mit dem Global Citizen Festival 2016 bekam diese Kampagne eine Bühne und damit eine größere Bekanntheit“, so Hassan. “In Zusammenarbeit mit Sharmeen Obaid-Chinoy, CHIME FOR CHANGE und Global Citizen konnten wir erfolgreich Druck auf die pakistanische Regierung ausüben, ein Gesetz zur Ächtung von Ehrenmorden zu verabschieden. Dadurch wurde endlich ein wichtiges Schlupfloch geschlossen, das die Täter straffrei oder nur mit einer milden Strafe davonkommen ließ.”

IV. Die Wirkung durch den internationalen Druck

Der Tod Balochs schockierte viele Menschen in der Welt, nicht jedoch in Pakistan.

“Sie galt als mutig. Sie bot Vorurteilen die Stirn … und war sie selbst. Und aus genau diesem Grund wurde sie ermordet“, so Hassan.

Im Unterschied zu den hunderten weiteren Fällen von Ehrenmord, die es in Pakistan jährlich gibt, war Baloch jedoch ein Internet-Star mit zahlreichen Followern im ganzen Land. Ihr Tod konnte nicht unbemerkt bleiben.

Angesichts der Aufmerksamkeit, die Obaid-Chinoys Dokumentarfilm erregte, konnte Pakistan das Problem nicht länger aussitzen, erklärte Hassan. Und internationaler Druck baute sich auch auf andere Weise auf: “Pakistan hat eine sehr lebendige, aktive Zivilgesellschaft, die viel bewirkt und sich viele Jahre für die Ächtung von Ehrenmorden eingesetzt hat. Aber Sharmeens Dokumentarfilm war ein Wendepunkt“, erklärte Benazir Jatoi, eine in Islamabad tätige Frauenrechtsaktivistin und Menschenrechtsanwältin.

Der Dokumentarfilm rückte nicht nur das Thema Ehrenmorde weltweit ins öffentliche Bewusstsein, sondern machte auch auf die Schlupflöcher im pakistanischen Recht aufmerksam, die den Tätern Straffreiheit ermöglichen.

Zugunsten der pakistanischen Regierung sei gesagt, dass sie die Gelegenheit ergriff, sich des Themas anzunehmen, wie Hassan erklärte.

Nachdem er den Film gesehen hatte, versprach Premierminister Sharif, für eine Gesetzesänderung zu sorgen. Die Regierung ließ den Film weltweit zeigen, zum Beispiel gemeinsam mit Equality Now am Hauptsitz der UN.

“Keine Regierung – und das gilt insbesondere für Pakistan – möchte in den Augen der Welt schlecht dastehen. Aber genau das vermittelte der Dokumentarfilm. Er zeigte der ganzen Welt, dass das pakistanische Justizsystem Mädchen keinen Schutz bietet, und die pakistanische Kultur ebenso wenig“, sagte Hassan.

Jatoi und Hassan erklärten übereinstimmend, dass der internationale Erfolg des Films und die weltweite Empörung über die Ehrenmorde Druck auf die pakistanische Regierung ausübten. Und dieser Druck von Menschen auf der ganzen Welt, einschließlich der Global Citizens, trug dazu bei, die Regierung zum Handeln zu bewegen.

“Wir kamen aus den verschiedensten Ländern und sprachen unterschiedlichste Sprachen – aber uns einte ein Ziel: Wir wollten aktiv gegen Ehrenmorde werden“, erinnert sich Lidalia Encarnacion an die Unterzeichnung der Petition.

“Vielen ist nicht klar, wie sehr das hilft … aber wenn man wirklich viele Unterschriften sammelt und sie einer Regierung vorlegt, dann weiß sie, dass sie handeln muss, weil sie unter Beobachtung steht – und nicht nur durch Menschen aus dem eigenen Land; Menschen in aller Welt haben ein Auge darauf, was die Regierung unternimmt“, sagt Hassan.

“Das stößt Veränderungen an. Jeder von uns kann Veränderungen bewirken. Jeder ist ein Global Citizen. Und ich denke, dass wir alle aktiv werden sollten“, fügt sie hinzu.

V. Der Kampf für ein neues Gesetz

Seit mehr als einem Jahrzehnt kämpfen Menschenrechtsaktivist*innen in Pakistan und anderen Ländern dafür, dass Schlupflöcher im pakistanischen Recht geschlossen werden, die Täter nutzten, um straffrei auszugehen oder mit sehr milden Strafen davonzukommen.

2004 hatte die Regierung ein Gesetz zur Änderung des Strafrechts verabschiedet. Laut diesem Gesetz, das “Ehrverbrechen“ einschließlich Ehrenmorde rechtlich definiert, stehen Ehrenmorde unter Strafe und werden mit einer Haftstrafe von mindestens sieben Jahren belegt.

Das Gesetz ließ es jedoch zu, dass Täter straffrei blieben oder mit lächerlich geringen Strafen davon kamen, wenn die Familien der Opfer ihnen vergaben oder die Täter die Familie des Opfers finanziell entschädigten (mit so genanntem “Blutgeld“ oder “Diya“ nach islamischem Recht).

Das Gesetz ließ Richtern zudem die Möglichkeit, Ehrenmorde als “provoziert” und damit als Affekthandlung zu werten und auf Basis dessen mildere Strafen zu verhängen – ein Rechtskonzept, das laut Hassan noch aus der Zeit der britischen Kolonialherrschaft stammt.

Balochs Fall machte dieses Problem deutlich. Ende Juli wurde der Gesetzesentwurf zur Ächtung von Ehrenmorden, der ursprünglich 2015 von Senator Sughra Imam eingereicht worden war, erneut zur Abstimmung vorgelegt. 2015 wurde der Entwurf, der diese gesetzlichen Schlupflöcher schließen und Strafminderung bei Ehrenmorden beenden sollte, einstimmig vom Senat, allerdings nicht vom Parlament verabschiedet.

Die Aktivist*innen hofften jedoch, dass die Gesetzesvorlage angesichts der internationalen Reaktionen und Beobachtung 2016 erneut vorgelegt wird.

Global Citizens setzten ihre Aktionen fort und waren bis September bereits zehntausend Mal aktiv geworden, um einen Beitrag zum Rückgang von Ehrenmorden und zur Verbreitung der Botschaft von Obaid-Chinoy und anderen Aktivist*innen in Pakistan zu leisten. Insgesamt wurden 24.558 Global Citizens 35.460 Mal aktiv, um eine Änderung des pakistanischen Rechts im Hinblick auf Ehrenmorde zu bewirken.

Am 24. September 2016 richtete die Filmemacherin an der Seite von Salma Hayek Pinault auf der Bühne des Global Citizen Festival einen leidenschaftlichen Appell an Regierungen, insbesondere an die pakistanische Regierung, sich stärker gegen Gewalt gegen Frauen zu engagieren. Zudem produzierte Obaid-Chinoy eigens für das Festival ein Video, in dem sie die – mit ihren Worten – “sehr kurze Geschichte“ von Baloch erzählt.

VI. Ein großer Erfolg

Am 6. Oktober 2016 reagierte die pakistanische Regierung mit der Verabschiedung des Gesetzes gegen Ehrenmorde endlich auf das Drängen der pakistanischen Zivilgesellschaft und die Kampagnenarbeit von Equality Now, Obaid-Chinoy und Global Citizens.

“Kein Mädchen und keine Frau hat den Tod verdient, weil sie ihr Leben nach eigenen Vorstellungen und Werten leben will“, schrieb Obaid-Chinoy nach der Verabschiedung des Gesetzes in einer E-Mail an Global Citizen. “Dieser wichtige Schritt hat das Potenzial, das Leben vieler Frauen zu schützen. Jetzt ist es an der pakistanischen Regierung, für die Durchsetzung dieses Gesetzes zu sorgen.“

Die Verabschiedung des Gesetzes gegen Ehrenmorde zeigt, was Druck durch Aktivisten und Unterstützer bewirken kann. Das Gesetz ist zweifelsohne ein wichtiger Wendepunkt in den Bemühungen, Ehrenmorde in ganz Pakistan abzuschaffen. Fest steht jedoch auch, dass der Kampf noch nicht vorbei ist.

Pakistani civil society activists carry signs during a protest against the murder of social media celebrity Qandeel Baloch by her own brother, on July 18, 2016 in Islamabad.
Pakistani civil society activists carry signs during a protest against the murder of social media celebrity Qandeel Baloch by her own brother, on July 18, 2016 in Islamabad.
Image: Aamir Qureshi/AFP/Getty Images

Leider zeigte sich in der Praxis, dass die Durchsetzung des Gesetzes nicht annähernd so konsequent erfolgte, wie viele es sich erhofft hatten. Bisher – also zwei Jahre nach Verabschiedung des Gesetzes – wurde kein einziger Täter und keine Täterin wegen eines Ehrenmordes verurteilt, nicht einmal in Balochs Fall.

“Gesetze sind wichtig. Aber sie müssen auch angewendet werden“, sagt Obaid-Chinoy.

Die Eltern von Baloch hatten ursprünglich gewollt, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wird. Unter dem Druck ihres Umfeldes widerriefen sie ihre Forderung nach Bestrafung ihres Sohns jedoch und erklärten 2018 gegenüber BBC sogar, er hätte Baloch nicht ermordet.

Folgt man gemeinnützigen Organisationen und Strafverfolgungsbehörden, dann wächst das Bewusstsein für Ehrenmorde und andere Ehrverbrechen. Das bewirkt, dass mehr Frauen und Mädchen Übergriffe anzeigen, wie die BBC berichtete. Das zum Zeitpunkt der Verabschiedung so gefeierte Gesetz hat sich bislang jedoch als wenig wirksam erwiesen.

Trotz schärferer Vorschriften werden Frauen im ganzen Land noch immer bedroht.

“Es bleibt noch sehr viel zu tun, damit Gesetze wie das Gesetz gegen Ehrenmorde in der Praxis tatsächlich greifen und Frauen vor dieser entsetzlichen Form von Missbrauch und Gewalt geschützt werden“, erklärt Pfeffer.

Alle kulturellen Normen und Gesetze, die Frauen zu Bürgern zweiter Klasse machen, müssen geändert werden. Erst dann wird es auch keine Ehrenmorde mehr geben – so die Meinung von Aktivist*innen.

Zudem ist es Fachleuten zufolge ein Problem, dass das Gesetz in seiner geänderten Fassung zwar eine Mindeststrafe von 25 Jahren für Ehrenmord vorsieht, Richtern jedoch nach wie vor die Möglichkeit lässt, einen Ehrenmord auch als Mord aus anderen Motiven zu werten und dann eine entsprechend mildere Strafe zu verhängen.

Das neue Gesetz untersagt es, dass die Familie des Opfers dem Täter vergibt – außer bei Todesstrafe. Befindet ein Richter jedoch, dass ein Mord aus einem anderen Motiv begangen wurde, kann die Familie des Opfers dem Täter vergeben.

Zudem haben Angehörige das Recht, dem Täter jederzeit außergerichtlich zu vergeben und die Anklage gegen ihn fallen zu lassen.

Nach Informationen der Aurat Foundation, einer pakistanischen gemeinnützigen Organisation, machten 2017 mehrere Täter erfolgreich geltend, sie hätten aus anderen Motiven gehandelt, und konnten sich daraufhin von den Familien ihrer Opfer vergeben lassen.

Dennoch war das Gesetz von 2016 ein wichtiger Schritt im Hinblick auf einen langfristigen Wandel. Es bedarf jedoch eines ganzheitlicheren Ansatzes, um Ehrenmorde in Pakistan und anderen Ländern zu beenden.

“In den Augen außenstehender Beobachter mögen die Fortschritte in Pakistan und anderen Ländern, die mit diesen Problemen zu kämpfen haben, gering erscheinen. Aber jede kleine Veränderung zum Positiven ist wichtig“, so Hassan.

“Ziel muss es letztlich sein, dass die Zahl der Ehrenmorde deutlich sinkt. Das erfordert breit gefächerte Bemühungen. Entscheidend dafür sind ein wasserdichtes Gesetz und dass der Staat die Verantwortung für diese Mädchen übernimmt – zumindest in diesem Punkt waren wir erfolgreich“, so Hassan weiter.

Um die Zahl der Ehrenmorde auf null sinken zu lassen, braucht es jedoch unbedingt eine wirksamere Strafverfolgung, eine entsprechende Sensibilisierung und Schulung der Polizeikräfte, Frauenhäuser und Aufklärung, sagen Hassan und weitere Aktivist*innen.

VII. Ein Zeichen von Fortschritt

“Damit sich die Dinge wirklich ändern, müsste ein Ehrenmord-Fall durch alle Instanzen gehen, bis hin zum Obersten Gerichtshof“, erklärt Jatoi. Und genau darauf besteht möglicherweise Hoffnung.

Der Oberste Gerichtshof entschied vor kurzem, den Fall von fünf Mädchen zuzulassen, die 2011 mutmaßlich Opfer von Ehrenmorden wurden. Laut Jatoi ist das ein Erfolg des jahrelangen Einsatzes von Menschenrechtsaktivist*innen für die Mädchen. Lebend sah man sie zuletzt in einem 2010 entstandenen Video, in dem sie lachen und zum Tanz eines jungen Mannes klatschen.

People protest against "honor killings" of women in Lahore on November 21, 2008.
People protest against "honor killings" of women in Lahore on November 21, 2008.
Image: Arif Ali/AFP/Getty Images

Obwohl die Polizei den Fall erst letztes Jahr aktenkundig machte – sieben Jahre nach dem mutmaßlichen Tod der jungen Frauen – ordnete der Oberste Gerichtshof jetzt Untersuchungen an, so schreibt die pakistanische Zeitung Dawn.

Jatoi zufolge ist die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs, die Fälle als Ehrenmorde zu betrachten, an sich schon als “offizielle Anerkennung der Tatsache zu werten, dass Mädchen im Namen der Ehre ermordet wurden“. Und aufgrund der Signale, die von dieser Anerkennung ausgehen, sei dies als Fortschritt zu sehen.

Global Citizen-Aktivistin Lidalia Encarnacion bleibt hoffnungsvoll. Sie ist davon überzeugt, dass die Dinge sich ändern werden, je mehr Ehrenmorde aktenkundig gemacht werden.

“Wir Frauen sind stark, wir können so viel bewirken“, sagt sie. 

Als Teil seiner weltweiten Bemühungen im Rahmen von #LeveltheLaw wird Global Citizen Aktivist*innen wie Jatoi in Pakistan, die gegen Missstände kämpfen, auch weiterhin unterstützen. Und Global Citizens in aller Welt können auch in Zukunft ihre Stimme erheben, damit Mädchen und Frauen eine bessere Zukunft haben.