Khuất Thị Hải Oanh ist Ärztin und setzt sich für die Rechte ausgegrenzter Menschen ein. Sie hat das Center for Support Community Development Initiatives (SCDI), eine vietnamesische Nichtregierungsorganisation, mitbegründet und ist dessen Geschäftsführerin. 2017 zählte Forbes Vietnam Dr. Oanh zu den 50 einflussreichsten Frauen des Landes.
Angefangen hat für Khuất Thị Hải Oanh alles mit der Evaluierung des nationalen HIV-Programms in ihrem Heimatland Vietnam. Im Zuge der Datenerhebung kommt die junge Ärztin zum ersten Mal mit Menschen und Gemeinschaften in Kontakt, die am stärksten von HIV betroffen sind. Sie sieht das Leid, die Stigmatisierung und Ausgrenzung. Seither setzt sich Oanh gemeinsam mit den Betroffenen ein, diese Situation zu ändern. 2010 gründet sie ihre eigene NGO, das Center for Supporting Community Development Initiatives (SCDI). Im Gespräch berichtet Oanh, wie HIV-Präventions-, Test- und Behandlungsprogramme dabei helfen, LGBTQIA+ Rechte in Vietnam voranzubringen und zu schützen.
2001 hast du als Wissenschaftlerin an der Evaluierung des nationalen AIDS-Programms in Vietnam mitgearbeitet. Wie war die Situation damals?
Oanh: Im Rahmen dieses Projekts war es meine Aufgabe, Menschen mit HIV aufzusuchen und zu befragen. Ihr Leid hat mich überwältigt. Es gab so viel Stigmatisierung und Depression. Die Betroffenen waren hoffnungslos, weil der Tod unausweichlich war und wir Forschenden und Mediziner*innen fühlten uns hilflos, weil wir nichts dagegen tun konnten. Damals gab es noch keine antiretroviralen Medikamente und es lastete ein großes Stigma auf Menschen, die mit HIV leben, darauf, wer sie sind: schwule Männer und Männer, die Sex mit Männern haben (MSM), Transgender-Frauen, Sexarbeiter*innen, Menschen, die Drogen gebrauchen, sowie deren Ehepartner*innen oder Freund*innen. Die Stigmatisierung, die Ablehnung und die Diskriminierung waren enorm, und das hat mich wirklich erschüttert.
Und dann hast du beschlossen, aktiv zu werden und dich gegen HIV und die Stigmatisierung einzusetzen?
Ja. Diese Erfahrung hat mich motiviert. So kam es, dass ich zusammen mit einigen Kolleg*innen eine Organisation gründete, um mit den Menschen zu arbeiten, die am stärksten ausgegrenzt und stigmatisiert werden: den LGBTQIA+ Communities, Menschen, die Drogen injizieren und Männer, die Sex mit Männern haben. Anfangs dachte ich, ich könne ihnen helfen, ihr Leid zu lindern. Aber als ich dann immer enger mit den Communities zusammengearbeitet habe, wurde mir klar, dass sie sehr widerstandsfähig sind und über ein großes Know-how verfügen, das wir nicht haben. Sie brauchen uns nicht, um sie zu retten. Aber aufgrund von Stigmatisierung, Vorurteilen, sozialer Ungerechtigkeit und politischer Maßnahmen werden sie oft vom Entscheidungsprozess ausgeschlossen und ihre Stimmen dementsprechend nicht gehört. Bei unserer Arbeit geht es also darum, mit ihnen zu arbeiten, nicht für sie, und ihnen Möglichkeiten zu geben und sie darin zu bestärken, ihre eigenen Rechte einzufordern.
Oanh bei der Eröffnung einer Veranstaltung, die SCDI gemeinsam mit Rechtshilfestellen organisiert hat. Es geht um Rechtsberatung und juristische Unterstützung für LGBTQI+ Menschen.
Die LGBTQIA+ Community spielt in deiner Arbeit eine besondere Rolle. Wie arbeitet ihr zusammen?
Seit der Gründung des SCDI 2010 arbeiten wir mit der LGBTQIA+ Community zusammen. Mit Unterstützung des Globalen Fonds haben wir unser erstes Programm entwickelt, weil sich die HIV-Epidemie unter Männern, die Sex mit Männern haben, und Transgender-Frauen ausbreitete. Anfänglich ging es hauptsächlich um HIV, doch dann entwickelte sich das Programm weiter. Unser Ansatz ist es, die Menschen zu unterstützen, die eine Vision haben und eine Führungsrolle übernehmen und sich für ihre Community einsetzen. Das machen wir noch heute und es ist wirklich großartig zu sehen, wie die Menschen zusammenkommen und dadurch gestärkt werden, wie sie sich besser behaupten und unabhängiger werden. Ihr Leben verändert sich – für sie selbst, aber auch für ihre Community. In den letzten Jahren haben wir eine Menge positiver Veränderungen erlebt.
Aber bei deiner Arbeit mit den LGBTQIA+ Communities geht es nicht nur um die lokale Ebene, richtig?
Ganz genau. Wir unterstützen diejenigen, die innerhalb ihrer Community eine führende Rolle spielen, sodass sie sich organisieren und eigene Community-Based Organisations (CBOs) aufbauen, also Organisationen auf Community-Ebene. Sobald es eine gewisse Anzahl lokaler Organisationen gibt, bestärken wir sie darin, sich untereinander zu vernetzen, damit sie wachsen und ein landesweites Netzwerk bilden können. Im Jahr 2013 wurde das vietnamesische Netzwerk für MSM und Transgender gegründet.
Ein landesweites Netzwerk ist nicht zuletzt deswegen so wichtig, weil es innerhalb der Community zeigt, dass man sich treffen und voneinander lernen kann. Die Mitglieder können also Erfahrungen austauschen und dadurch weiterwachsen. Diese Dynamik war und ist nicht auf eine bestimmte Gruppe beschränkt, sondern strahlt auf die gesamte LGBTQIA+ Community aus, wenn die Menschen sehen, was möglich ist, und inspiriert werden, sich ebenfalls zu organisieren.
Angefangen hat es also mit der Unterstützung für HIV-Programme durch den Globalen Fonds, das war der Impuls für die LGBTQIA+ Community, sich zusammenzuschließen und gemeinsam voranzukommen.
Welche Rolle spielen die Communities bei den HIV-Programmen?
Die Mittel, die wir als SCDI erhalten, gehen über uns an die Community-Organisationen. Es ist wirklich von zentraler Bedeutung, dass diese selber entscheiden, wie das Geld ausgegeben wird, und zwar auf der Grundlage ihrer Strategie und unter Berücksichtigung ihrer Bedürfnisse und Prioritäten. HIV-Prävention, Testangebote und die Vermittlung von Behandlungsmöglichkeiten und PrEP – ein Medikament, das Menschen mit hohem HIV-Risiko einnehmen können, um sich vor einer Ansteckung zu schützen – all diese Leistungen werden von den lokalen Community-Organisationen angeboten. Gemeinsam konzentrieren wir uns natürlich auf HIV, aber wir kümmern uns auch um andere sexuell übertragbare Infektionen, um flächendeckende Gesundheitsversorgung und Menschenrechte.
So haben wir uns beispielsweise für ein Gesetz zur Anerkennung von Trans*-Identitäten und andere rechtliche Regelungen eingesetzt, die Menschenrechte schützen. Als eingetragene Organisation unterstützen wir die Communities dabei zu wachsen und vermitteln den Dialog mit politischen Entscheidungsträger*innen und anderen Akteur*innen. Es sind jetzt nicht mehr Einzelpersonen, die am Verhandlungstisch sitzen, sondern Vertreter*innen der Community. Der Globale Fonds spielt dabei eine entscheidende Rolle, denn er stellt Gelder bereit, so dass sich die Communities organisieren können und er schafft Räume, die es ihnen ermöglichen, mitzuverhandeln, mit anderen Akteur*innen in Dialog zu treten und zu zeigen, dass sie eine Rolle spielen.
SCDI Info-Broschüren zu den Themen sexuelle Orientierung, Geschlechtsidentität und Transgender. Finanziert wurden die Materialien u.a. von Brot für die Welt.
Das Mandat des Globalen Fonds, HIV einzudämmen, bietet einen wichtigen Ansatzpunkt für die Zusammenarbeit mit den LGBTQIA+ Communities. Das ist wirklich einzigartig und funktioniert sogar in einem Umfeld, das rechtlich oder politisch schwierig ist, wie es ja immer noch vielerorts weltweit der Fall ist. Die Bewegung muss irgendwo anfangen und dank des Globalen Fonds kann sie in den queeren und transsexuellen Communities beginnen und sich von dort aus weiterentwickeln. Eine Stimme zu haben, einen Platz am Verhandlungstisch bedeutet sehr viel und inspiriert andere Teile der Gemeinschaft. Sie sehen, welche Veränderung möglich ist, wenn sie sich organisieren und dass sie etwas zu den politischen Debatten und Entscheidungen beitragen können.
Was hat sich verändert, seit du vor über einem Jahrzehnt angefangen hast, dich zu engagieren?
Wir haben noch heute eine HIV-Epidemie unter Männern, die Sex mit Männern haben, und Transgender-Frauen – aber mittlerweile sind die Communities organisiert und es gibt Präventions- und Behandlungsprogramme. Als wir angefangen haben, war es sehr schwierig, einen schwulen Mann mit HIV dazu zu bringen, seinen Status offenzulegen oder mit jemandem zu sprechen. Die Menschen fühlten sich massiv stigmatisiert und sie stigmatisierten sich auch selbst. Das ist jetzt anders. Die LGBTQIA+ Communities sind offener und integrativer und gleichzeitig sind Akzeptanz und Offenheit in unserer Gesellschaft gewachsen. Natürlich ist es noch immer nicht hundertprozentig stigmafrei, aber wir sehen viele Fortschritte.
SCDI-Mitrgründerin Oanh und ihre Mitarbeiter*innen vor dem Büro der Organisation in Hanoi, Vietnam.
Der Globale Fonds unterstützt die nationalen Tuberkulose- und HIV-Programme Vietnams seit 2004. Seither verzeichnet das südostasiatische Land stetige Fortschritte: Die Zahl der AIDS-bedingten Todesfälle ist um 38 Prozent gesunken, HIV-Neuinfektionen um 70 Prozent. Nach wie vor sind drei Schlüsselgruppen in Vietnam besonders stark von HIV betroffen: Sexarbeiter*innen, Menschen, die Drogen injizieren, sowie schwule Männer und andere Männer, die Sex mit Männern haben. Die Verbesserung der Test-, Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten für diese Bevölkerungsgruppen und ihre Partner*innen ist einer der Hauptschwerpunkte der nationalen HIV-Eindämmungsstrategie, zu der der Globale Fonds derzeit Mittel beisteuert. Aktuell unterstützt der Globale Fonds Vietnams Tuberkulose- und HIV-Programme mit einem Gesamtbudget von 121 Millionen US-Dollar für den Zeitraum 2021-2023.