Mal eine Frage zu Beginn: wie sah Dein Leben aus, als Du 9 Jahre alt warst? Also meines war eher unspektakulär: Ausflüge zur Stadtbibliothek oder in den Park, nichts außergewöhnliches.
Nicht so für Justus Uwayesu. Mit 9 Jahren lebte Justus auf einer Mülldeponie in Kigali und kämpfte ums Überleben. Die Geschichte seiner Kindheit macht einem auf nahezu bedrückende Weise bewusst, welch unfassbares Glück ein jeder hat, der behütet und in Sicherheit aufwachsen darf.
Justus kam 1991 in Ruanda zur Welt. Zumindest wenn man seinem Reisepass glaubt. Denn Justus ist sich nicht sicher, wann genau er geboren wurde. Er kam nicht in einem Krankenhaus zur Welt und seine Eltern waren beide Analphabeten und konnten somit sein Geburtsdatum nicht festhalten. Aufgewachsen in einem kleinen Dorf, mit einem Fußmarsch von 2 Stunden bis zum nächstgelegenden Brunnen, klingt dies wie eine der vielen tragischen Geschichten aus der Armut, auf die viel zu viele unter uns schon kaum noch reagieren.
Waise in Ruanda
Im Jahr 1994 nahm Justus Leben eine unerwartete Wende. Der Genozid an den Tutis hatte für angsteinflößende 100 Tage das Land fest im Griff und Justus Eltern gehörten zu den zwei der insgesamt über 800.000 grausam ermorderten Menschen in dieser Zeit.
Gerade mal 3 Jahre alt, wurden Justus und seine jüngeren Schwestern vom älteren Bruder aus dem kleinen ländlichen Dorf in ein Auffanglager des Roten Kreuzes gebracht, wo sie für dreieinhalb Jahre mit tausenden von anderen verwaisten Kindern lebten. “Einige meiner intensivsten Erinnerungen sind verwundete Kinder, die weinen und nach ihren Eltern rufen.” erzählt Justus. “Gott sei Dank gab es das Rote Kreuz, denn der Rest der Welt hatte sich von uns abgewandt.”
Das Lager des Roten Kreuzes war stark überfüllt und sowohl Nahrungsmittel, Wasser als auch Arzneimittel waren begrenzt, so dass Justus und seine Geschwister zurück in ihr Dorf geschickt wurden, wo sie von dort an mit der Frau ihres verschwundenen Onkels in ihrem Elternhaus lebten. “Für eine Weile ernährten wir uns von Getreide, dass meine Eltern auf ihrem Grundstück angebaut hatten. Wir hatten auch Advocados und Papaya Bäume. Ich habe mir selbst das Angeln beigebracht.” Leider hielt dieser Zustand nicht lange an. Nur ein Jahr später wurde das Land von einer starken Dürreperiode und Hungersplage heimgesucht. Justus und ein Freund liefen 80km zu Fuß bis nach Kigali auf der Suche nach was zu Essen.
Leben auf einer Müllhalde
Wann immer Justus Suche nach etwas Essbaren nicht erfolgreich war, versuchte er sich mit Jobs durchzuschlagen (wohlgemerkt im zarten Alter von gerade mal acht Jahren). “Ich habe Kühe gehütet und auf dem Grundstück des Viehtreibers gelebt, aber nach 9 langen Monaten ohne auch nur einen Cent des versprochenen Lohns bin ich gegangen.” Justus machte sich auf die Suche nach seinem älteren Bruder und fand ihn in einem Kinderheim. “Das Heim hatte keinen Platz mehr für mich und das Lager des Roten Kreuzes war abgebaut. Es gab keinen anderen Ort, an den ich hätte gehen können, und so landete ich auf der Mülldeponie.”
Und auf dieser lebte Justus für ganze eineinhalbe Jahre, ein ausgebranntes Autowrack sein Zuhause nennend. Seine Tage verbrachte er mit betteln nach Essen und Kleider. “Während andere Kinder Angst vor dem Monster unter ihrem Bett haben, graute es mir nachts vor dem Tiger, der angeblich durch die Müllhalde streifte und Menschen attackierte.”*
Mama Clare
Der damals 9-jährige Justus hatte einen einzigen Traum: “Ich wollte wie die anderen Kinder sein und in einer Schuluniform zur Schule gehen.”
Und dann kam das Jahr 2001. Justus erinnert sich noch an das weiße Taxi, das eines Tages die Müllhalde entlang fuhr. “Eine Frau stieg aus dem Auto, den Arm voller Brote. Sie sagte: Komm, ich helfe dir.”
Diese Frau war Clare Effiong, Gründerin der Organisation ‘Esther’s aid’, die Kindern dabei hilft, Zugang zu Bildung zu erhalten. Als ehemalige UN Diplomatin verließ Clare ihren sicheren Posten, um nach zu Ruanda zu gehen und sich um die Kinder zu kümmern, die 7 Jahre nach dem Genozid immer noch auf sich alleine gestellt waren.
Während ihrer ersten Reise nach Ruanda, als sie noch für die UN tätig war und sich Urlaub nahm, kam sie in das Land mit einem Koffer voller Anziehsachen zum Verteilen. Als Clare zum zweiten Mal ins Land reiste und einen 5 Meter breiten Container voller Anziehsachen und Lebensmittel mitbrachte, stieß sie auf Justus. “Die anderen Kinder fragten Clare nach Geld, aber ich sagte ihr, dass ich zur Schule gehen will”, erzählt Justus. “Und in diesem Moment änderte sich mein Leben für immer, durch diese Frage nach einem der grundlegendsten Menschenrechte: Bildung.”
Seven United
Und hier könnte Justus Geschichte auch schon zu Ende sein. Wir könnten uns ausmalen, wie Justus zur Schule geht und letztendlich Lesen und Schreiben lernt.
Aber die Geschichte geht noch weiter. Im Jahr 2008 war Justus bereits Highschool Schüler am Saint-Andre College. Er war Klassenbester, hatte zudem Französisch gelernt und verbrachte die meiste Zeit damit, sich in seine Hausaufgaben zu vertiefen. Und Justus erinnert sich vor allem an einen Klassenkameraden aus dieser Zeit.
“Es gab einen Schüler, über den sich alle lustig machten. Er wurde ‘indongo’ genannt, was übersetzt ‘schmutzig’ heist. Seine Schuluniform war fast immer dreckig und er selbst wusch sich auch eher selten. Es hat Tage gedauert bis ich begriffen habe, dass er nicht faul war.”
Justus Klassenkamerad zählte zu den vielen armen Studenten, die sich kaum die Schulgebühren leisten konnten. Denn Bildung in Ruanda ist nicht kostenlos. “Ich habe mich geschämt. Wir waren über 3 Monate zusammen in einer Klasse und alles was ich tat, jedes Mal wenn er von den anderen ausgelacht wurde, war lächeln und weitergehen. Ich beschloss, dass es so nicht weiter gehen kann und ich etwas tun muss.”
Justus sprach zwei andere Klassenkameraden an und fragte, ob sie ihm helfen würden. Von da an teilten sie jede Woche einige ihrer eigenen Schulmaterialien, aber auch Dinge wie Seife und Zahnpasta mit ihrem Klassenkameraden und forderten nach und nach auch andere Schüler auf, sich zu beteiligen.
So wurde aus drei Klassenkameraden bald sieben und gemeinsam gründeten sie die Gruppe ‘Seven United for the Needy’. Die Gruppe traf sich regelmäßig, um darüber zu sprechen, wie sie am besten helfen als auch Geld sammeln könnten.
Heute
Sieben Jahre später ist ‘Seven United’ zu einer führenden Non-Profit Organisation in Ruanda herangewachsen mit dem Ziel, sich für Kinder aus armen Familien einzusetzen und ihnen den Zugang zu Bildung zu ermöglichen. Und ‘Seven United’ brennt darauf, zu expandieren. “Vielleicht in London, vielleicht aber in meiner neuen Heimatstadt Boston in den USA” sagt Justus.
Justus studiert im zweiten Semester an der renommierten Universität Harvard. Er strebt danach in der Wirtschaft zu arbeiten und dann nach Ruanda zurückzukehren, um dort vor Ort zu arbeiten.
Wenn ich Justus Geschichte lausche, frage ich mich, woher Justus nur die Energie für all diese Dinge in seinem Leben genommen hat. Das Leben hat ihm von jungen Jahren an so viele verschiedene Hürden in den Weg gelegt, wer würde ihm da einen Vorwurf machen können, wenn er jetzt beschließen würde, ab jetzt ein ruhiges Leben führen zu wollen.
Aber Justus selbst sieht das anders: „Ich war eines der vergessenen Kinder, aber Dank einer Person, die durch all den Schmutz und Dreck einer Müllhalde in Kigali hinweggesehen und mein Potential sah, dank dieser Person bin ich jetzt in der Lage, anderen zu helfen."
Mehr über Justus und seine inspirierende Geschichte erfahren? Hier geht's zum Audio-Podcast, in dem ihr Justus live hören könnt, wie er seine Geschichte erzählt.