Jeder Mensch ist wertvoll und muss die gleichen Rechte haben. Die existierenden gesellschaftlichen Machtverhältnisse und die damit verbundenen konstruierten Ungleichheiten dürfen dem nicht im Weg stehen – so die Überzeugung im intersektionalen Feminismus. Die Coronakrise zeigt: Diese Haltung ist heute vielleicht so wichtig wie nie zuvor.

Der Ausbruch des Coronavirus beschäftigt derzeit die ganze Welt – und erfordert kluges Handeln. Für ein gutes Krisenmanagement braucht es aber nicht nur wissenschaftliche Forschung. Es braucht auch politische und soziale Antworten. Und im Gegensatz zu Medikamenten und Impfstoffen müssen diese nicht erst noch erfunden werden. Der Feminismus kann jetzt die klaffende Lücke der Ungleichheit schließen, die sich gerade wie unter einem Brennglas zeigt. Warum die Coronakrise eine feministische Antwort braucht? Hier sind 5 Gründe:

1. Jede*r ist wertvoll

Jeder Mensch ist wertvoll und muss die gleichen Rechte wahrnehmen können Die existierenden gesellschaftlichen Machtverhältnisse und die damit verbundenen konstruierten Ungleichheiten dürfen dem nicht im Weg stehen. Ein 35-jähriger Bankangestellter ist für die Gesellschaft nicht wichtiger als eine 60-jährige Kassiererin. Das gilt genauso für die 70-jährige Asthmatikerin, die ihren Enkelkindern jetzt via Smartphone Geschichten vorliest oder die 40-jährige Aktivistin und Farmarbeiterin, die in Südafrika auch weiterhin dafür sorgt, dass in Supermärkten weltweit Wein und Trauben aus Südafrika landen und die sich gleichzeitig für die Rechte von Farmarbeiter*innen einsetzt.

Die Haltung, dass jede*r wertvoll ist, muss unser persönliches Handeln bestimmen. Es braucht Verständnis füreinander – und vor allem nicht nur für die ohnehin Privilegierten –  um miteinander in einer zunehmend vernetzten Welt zu leben – trotz und gerade wegen der aktuellen räumlichen Distanz. Auch die Politik muss handeln: Die Maßnahmen, die Regierungen heute ergreifen, werden unsere Zukunft mittel- und langfristig prägen. Wer bestehende Ungleichheiten, Rassismus und andere Formen von oft miteinander verwobenen, sich gegenseitig verstärkenden Diskriminierungen – sei es aufgrund von Geschlecht, sozialem Status oder Gesundheitszustand – dabei als Randthemen versteht, die in Krisenzeiten vernachlässigbar sind, lebt an der  Realität vorbei.

2. Es braucht Antworten, die Ungleichheiten adressieren

Wer macht sich gerade keine Gedanken um sich selbst oder seine Lieben? Wir alle haben mindestens ein mulmiges Gefühl und mitunter auch Angst. Schließlich ist die Pandemie bis in den letzten Winkel unserer Leben vorgedrungen. Aber wahr ist auch: Die Krise trifft uns unterschiedlich hart. Personen, die kein (sicheres) Zuhause haben, von Armut, ausbeuterischen Arbeitsbedingungen, rassistischer Diskriminierung und ungleichen Machtverhältnissen betroffen sind sowie chronisch Kranke leiden besonders. Vor allem ältere Frauen und alleinerziehende Mütter, die den Vereinten Nationen zufolge ohnehin besonders oft arm bzw. armutsgefährdet sind, trifft der aktuelle Ausnahmezustand mit schonungsloser Härte. 

Wie langfristig die Folgen der Coronakrise insbesondere für Frauen sein können, lässt ein Blick auf frühere Pandemien schon jetzt erahnen: So sind zwar die Einkommen aller Menschen durch Ebola in Westafrika gesunken, doch die "Einkommen der Männer kehrten schneller auf den Stand vor der Epidemie zurück als die von Frauen“, so die Gesundheitsforscherin Julia Smith in der New York Times. Und dabei verdienen Frauen weltweit generell bereits 23 Prozent weniger als Männer, die wiederum über 50 Prozent mehr Vermögen verfügen. Diese Ungleichheit wird durch die Krise verschärft.

Gleichzeitig gibt es keinen Zweifel: "Es sind Frauen, die das Land rocken“, wie der Berliner Tagesspiegeltitelte – und das gilt nicht nur für Deutschland. Systemrelevante Berufe werden weltweit meist von Frauen ausgeübt. Mehr als 70 Prozent der Beschäftigten im globalen Gesundheitssystem sind Frauen. Auch sind es Frauen, die über 70 Prozent der weltweit unbezahlten Tätigkeiten erledigen und damit dreimal so lang ohne Lohn wie Männer arbeiten. Diese schreiende Ungerechtigkeit verstärkt sich in Zeiten von geschlossenen Schulen und steigenden Krankenzahlen, was zu einer wachsenden Belastung führt.

Eine Belastung, für die es bislang oft an politischen Antworten fehlt. Das muss sich jetzt ändern. Un- sowie unterbezahlte Pflege- und Sorgearbeit muss sich auf verschiedene (und mehr männliche) Schultern verteilen. Statt sie weiter systematisch abzuwerten, muss sie den Stellenwert haben, der ihr als gesellschaftliches Bindemittel weltweit zusteht. Wenn die Antworten die Herausforderungen wirklich bewältigen sollen, müssen Frauen und dabei auch lokale Frauenrechtsorganisationen bei Entscheidungen nicht nur mit am Tisch sitzen, sondern maßgeblich bestimmen, wie dieser Tisch gebaut ist. 

Wie wichtig es ist, bestehende Ungleichheiten bei politischen Maßnahmen zu berücksichtigen und Entscheidungsprozesse inklusiv und gleichberechtigt zu gestalten, zeigt sich etwa auch in Südafrika. So kritisiert unsere Partnerorganisation Women on Farms Project (WFP), dass die aktuellen Lockdown-Maßnahmen für Südafrika den Fakt verkennen, "dass es sich um das ungleichste Land der Welt mit einem Armutsanteil von 50 Prozent der Bevölkerung” handle. Von Zuhause arbeiten, sich Vorräte anlegen oder sich regelmäßig die Hände waschen? Für Farmarbeiterinnen, die ohnehin für die gleiche Arbeit schon weniger Lohn bekommen als Männer, häufig zu wenig verdienen, um von der Hand in den Mund zu leben und oft keinen Zugang zu sauberem Wasser haben, ist das schlicht nicht möglich. 

Für viele Menschen gilt außerdem: "Wir bleiben Zuhause”, funktioniert nicht. Weil sie kein Zuhause haben oder das Zuhause kein sicherer Ort ist, da sie dort Gewalt, zum Beispiel von Ehemännern Vätern oder Brüdern, schutzlos ausgeliefert sind. Quarantäne und Ausgangssperren machen es besonders Frauen und Kindern schwer, sich dagegen zur Wehr zu setzen. In Südafrika hat sich bereits in der ersten Woche nach dem dem Lockdown die Zahl der Anrufe von Frauen, die Zuhause Gewalt erfahren, beim Gender-Based Violence Command Centre (GBVCC) verdreifacht.

Die Frauenorganisationen, mit denen Oxfam in Tunesien arbeitet, berichten von einer Verfünffachung der häuslichen Gewalt seit Beginn der Ausgangssperren. Auch in Deutschland ist ein rasanter Anstieg bereits absehbar. Regierungen müssen dringend entsprechende Maßnahmen ergreifen und zum Beispiel ohnehin schon unterfinanzierte Anlaufstellen wie Frauenrechtsorganisationen, Beratungsstellen und Frauenhäuser unterstützen. Frauen und Kinder, die an einem Ort, der eigentlich für Geborgenheit stehen sollte, häuslicher und sexueller Gewalt ausgesetzt sind, müssen jede mögliche Form der Unterstützung erhalten.

3. Faire Bezahlung und Existenzsicherung sind keine Randthemen

Entlassungen und Kurzarbeit sind aktuell zu einer besonderen Existenzbedrohung geworden. Wie weltweit existentiell die Bedrohung durch Corona gerade für Frauen ist, zeigt unter anderem die Textilindustrie in Bangladesch: Durch die Stornierungen von Textilfirmen sind vor allem Arbeitsplätze und damit Existenzgrundlagen von Näherinnen in Gefahr. Auch auf Weinfarmen in Südafrika sind Frauen besonders betroffen: Wenn der Weinimport infolge des Virus sinkt, werden Saison-Arbeiterinnen zuerst ihre Arbeit verlieren, während die (meist männlichen) Kollegen mit festen Arbeitsverträgen ihre Jobs behalten. "Während Farmarbeiterinnen in Südafrika als systemrelevant eingestuft wurden, spiegelt sich diese Relevanz keineswegs in den viel zu niedrigen Löhnen und den prekären Arbeitsbedingungen wider”, so Colette Solomon, Direktorin von Women on Farms Project. Diese Doppelmoral darf in einer gerechten Welt keinen Platz haben.

Anerkennung und Wertschätzung sind wichtig, aber Applaus und Zuspruch für systemrelevante Berufe und Pflege in TV-Spots reichen nicht. Es braucht eine angemessene Bezahlung und sichere Arbeitsbedingungen für eben diese entscheidende Arbeit – während der Krise, aber vor allem auch langfristig – alles andere wäre zynisch. 

4. Gesundheit und Pflege sind keine zu handelnde Ware

Insbesondere für Menschen, die ohnehin in fragilen Staaten oder auf engstem Raum miteinander leben, ist das Ansteckungsrisiko und das Risiko eines schweren bzw. tödlichen Krankheitsverlaufs aufgrund unzureichender medizinischer Versorgung besonders hoch. Das zeigt sich gerade auf dramatische Weise im Geflüchteten-Lager Moria, wo eine Toilette teilweise von über 150 Personen genutzt wird, es oft keine Seife gibt oder die Wasserversorgung unterbrochen ist.

Auch in anderen Teilen der Welt ist das Fehlen von (sauberem) Wasser bittere Realität. Die Gleichung ist dabei so simpel wie grausam: Kein sauberes Wasser – keine Gesundheit. Eine weitere Herausforderung: Wenn das Wasser nicht aus dem Hahn kommt, sondern Frauen und Mädchen mehrere Kilometer zum nächsten Brunnen gehen müssen, sind sie auch hier einem Ansteckungsrisiko ausgesetzt.

Zugang zu Medikamenten, präventiven Schutzmaßnahmen oder ärztlichen Behandlungen darf es nicht nur für einen ausgewählten Kreis wohlhabender Menschen geben. In Hongkong beispielsweise hat eine lokale Nichtregierungsorganisation kritisiert, dass sich fast 70 Prozent der Familien mit geringem Einkommen Atemmasken und Desinfektionsmittel nicht leisten konnten, die von der Regierung als Schutz gegen die Pandemie empfohlen wurden. Regierungen müssen den Zugang zu präventiven Maßnahmen für alle gleichermaßen sicherstellen. Auch das Menschenrecht auf sexuelle und reproduktive Gesundheit – dazu zählt zum Beispiel der Zugang zu Verhütungsmitteln oder Hygieneprodukten – erfordert ein besonderes Augenmerk.

5. Menschenrechte, Geschlechtergerechtigkeit und Umweltschutz nicht nur bei Sonnenschein einhalten

Auch in Zeiten von Corona darf die Politik andere Verantwortungen rund um das Thema Menschenrechte nicht aus den Augen verlieren. So braucht es beispielsweise auch weiterhin ein Lieferkettengesetz, damit Mensch und Natur nicht unter gewissenlosen Geschäften einiger deutscher Unternehmen leiden. Unternehmen müssen die besonderen Risiken für Frauen kennen und dafür lokale Frauenrechtsorganisationen konsultieren.

Andere europäische Länder haben bereits entsprechende Gesetze verabschiedet, etwa zum Verbot von Zwangs- und Kinderarbeit in Lieferketten. Das braucht es auch in Deutschland. Denn: Menschenrechte sind keine Bürde, sondern die Einhaltung ist Teil der Verantwortung – in guten wie in schlechten Zeiten. Das gilt auch für den Zugang zu sozialen Grunddiensten, wie etwa Bildung. Bereits jetzt sind 1,5 Milliarden Schüler*innen und Studierende von den weltweiten Schulschließungen betroffen. Hunderte Millionen von ihnen werden nie wieder ins Klassenzimmer zurückkehren.

Die Antworten auf Covid-19 dürfen die globalen Nachhaltigkeitsziele nicht aus den Augen verlieren. Während der Pandemie rückt die Klimakrise in den Hintergrund. Einzelne Stimmen in Politik und Industrie fordern schon jetzt, die bisherigen Umweltschutzmaßnahmen zugunsten der Wirtschaft zurückzunehmen. Doch das wäre ein Schritt in die völlig falsche Richtung. Die Krise erfordert nachhaltige Antworten. Dazu zählt auch eine Stärkung der globalen Sozial- und Gesundheitssysteme und vor allem eine angemessene Bezahlung der dort Beschäftigten. Die Unzulänglichkeit sozialer Sicherungssysteme ist durch die Krise überdeutlich geworden. Zu geschlechtergerechten sozialen Sicherungssystemen, die spezielle Risiken für Frauen und dabei gezielt auch Schwarzen Frauen sowie Frauen of Color auffangen, die Diskriminierung aufgrund des Zusammenwirkens von Sexismus und Rassismus erfahren, gibt es keine Alternative. 

Wir sind bereits mitten im Wandel und können nicht einfach die Fernbedienung nehmen und zurückspulen. Auch wenn vieles ungewiss ist, eines darf dabei niemals vergessen werden: Jeder Mensch ist wertvoll und muss die gleichen Rechte haben. Soziale sowie geschlechtsbezogene Ungleichheiten und Rassifizierung (also die sozial konstruierte Unterteilung und Hierarchisierung von Menschengruppen) sind dabei keine Randthemen, sondern erfordern Antworten. Das dürfen Regierungen bei ihren politischen Entscheidungen zur Eindämmung des Virus nicht vergessen. Und wenn sie es tun, müssen wir sie gemeinsam erinnern – wo und wann immer nötig. 


Dieser Blogbeitrag wurde zuerst am 14. April 2020 auf Oxfam.de veröffentlicht. Die globale Nothilfe- und Entwicklungsorganisation setzt sich für eine gerechte Welt ohne Armut ein. In ihren Kampagnen und Aktionen fordert sie Politik und Wirtschaft zu einem entwicklungsgerechtem Handeln auf. Dazu gehört auch der Einsatz für Frauenrechte weltweit.

Editorial

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