Als sich die USA im August 2021 aus Afghanistan zurückgezogen haben, versuchten Hunderttausende, das Land zu verlassen. Bilder von überfüllten Flughäfen und Menschenmassen an den Grenzen gingen um die Welt. Viele wollten nur eines: entkommen – vor einem Regime, das schon zwischen 1996 und 2001 mit seiner extrem strengen Auslegung der Scharia regierte.

Die Taliban versprachen damals, diesmal „toleranter“ zu sein. Doch die Realität sah schnell anders aus: Mädchen durften nicht mehr auf weiterführende Schulen, unabhängige Medienhäuser wurden geschlossen oder gleich zu Sprachrohren der Taliban umfunktioniert.

Seit dem Machtwechsel 2021 kämpfen alle mit diesem neuen Alltag – besonders jedoch Künstlerinnen und Künstler. Sie sind Schikanen, Einschüchterungen und sogar Festnahmen ausgesetzt, weil die Taliban eine extrem konservative Auslegung der Scharia durchsetzen, die visuelle Darstellungen von Lebewesen und die meisten Formen von Musik verbietet. Maler*innen, Musiker*innen, Kurator*innen und Kulturschaffende, die ihr Leben dem Erhalt und der Bereicherung der afghanischen Kultur gewidmet haben, mussten ihre Arbeit einstellen oder im Untergrund fortsetzen, um der Verfolgung zu entgehen.

„Seit die Taliban Afghanistan übernommen haben, ist der Großteil des Kunst- und Kultursektors komplett zerstört worden“, sagt Sanjay Sethi, Co-Direktor der Artistic Freedom Initiative (AFI), zu Global Citizen.

Wie arbeitet die Artistic Freedom Initiative?

AFI wurde 2017 von Anwält*innen für Einwanderungs- und Menschenrechte gegründet. Die Organisation bietet Künstler*innen, die in ihrem Heimatland gefährdet sind (z.B. durch staatliche Zensur oder die Bedrohung marginalisierter Gruppen) kostenlose Rechtsberatung und Unterstützung bei der Umsiedlung. Seit der Gründung hat AFI mehr als 2.000 Fälle übernommen und Künstler*innen und ihren Familien geholfen, an sichere Orte zu gelangen, an denen sie ihre Kunst fortsetzen können.

Anfangs erhielt AFI monatlich nur wenige Anfragen aus verschiedenen Ländern. Doch innerhalb von vier Monaten nach der Rückkehr der Taliban stieg die Zahl auf mehr als 3.000 Anträge allein aus Afghanistan, und das Land wurde zu einem besonderen Schwerpunkt.

„Künstler schickten uns Fotos aus Afghanistan“, erzählt Sethi. „Wir sahen zerstörte Instrumente – manche von den Taliban vernichtet, andere von den Künstlern selbst zerstört, aus Angst vor den Konsequenzen, falls sie entdeckt würden.“

Als Reaktion darauf startete AFI das Afghan Artists Protection Project (AAPP), das sich darauf konzentriert, afghanischen Künstler*innen zu helfen, die in ihrer Heimat keine Zukunft mehr sehen. Neben kostenloser Rechts- und Umzugshilfe vermittelt die Organisation auch Möglichkeiten, ihre Kunst weiterhin zu präsentieren – etwa bei Konzerten oder Ausstellungen. So bleibt ihre Kultur weltweit lebendig, auch wenn sie zu Hause unterdrückt wird.

„Hier geht es nicht nur um Meinungsfreiheit – oft geht es um den Erhalt von Kultur, falls den Künstler*innen oder ihrer Kunstform etwas zustoßen sollte“, sagt Sethi.

Afghanistans musikalische Tradition weitergeben

Für viele, die vor den restriktiven Regeln der Taliban fliehen mussten, ist das Ausüben ihrer Kunst eine Möglichkeit, ihrer Heimat nahe zu bleiben und ihre Kultur im Ausland lebendig zu halten. So auch für Mashal Arman, eine Afghanin, die das Land bereits in den 1990er Jahren verließ, als die Taliban erstmals an die Macht kamen.

Mit acht Jahren zog Arman mit ihrer Mutter in die Schweiz, nachdem der Abzug der sowjetischen Truppen zu einem Bürgerkrieg zwischen den Mujaheddin geführt hatte. Ihr Vater blieb zunächst zurück, um eine Musikschule weiterzuführen, die er mitbegründet hatte.

„Es war eine große Tragödie, als die afghanischen Mujaheddin die Schule zerstörten, die mein Vater mit seinen Kollegen aufgebaut hatte“, erzählt Arman. „Sie kamen hinein und zerstörten und verbrannten alle Instrumente.“

Später folgte ihr Vater in die Schweiz. Arman wuchs mit afghanischer Volksmusik auf, während sie zugleich westliche Musik studierte. Sie stammt aus einer Familie von Musikerinnen und Musikern, die über Jahrzehnte Teil der afghanischen Medienlandschaft waren, und kämpft dafür, diese Tradition am Leben zu halten – auch fernab der Heimat.

Heute ist Arman Sängerin und Komponistin und arbeitet mit AFI im Rahmen der Konzertreihe Heritage & Exilezusammen, die herausragende Musikerinnen im Exil vorstellt. Die Reihe wird vom AFI-Büro in Genf organisiert und macht deutlich, welche Rolle Musik bei der Vermittlung von Identität, dem Umgang mit Flucht und kultureller Resilienz spielt.

„Ich möchte eine positive Verbindung zu meinen afghanischen Wurzeln schaffen – durch Musik, nicht durch Politik. Ich will die musikalische Tradition, die ich geerbt habe, bewahren, weil sie sonst völlig verschwinden würde“, sagt Arman. „Diese Musik ist so reich und hat so tiefe historische Wurzeln. Wenn etwas so gut ist, kann man darauf weiter aufbauen, damit es wächst und sich entwickelt.“

Der Kanton Genf unterstützt die Reihe, indem er kostenlose Konzerttickets und Beschäftigungsmöglichkeiten für neu angesiedelte Ukrainer*innen und Afghan*innen in der Schweiz bereitstellt. So können auch Menschen aus der Diaspora, die selbst keine Künstler sind, an den Konzerten teilhaben.

Zerstörung der kreativen Wirtschaft

Für viele afghanische Künstler*innen bedeutete die Rückkehr der Taliban 2021 eine Wiederholung der Geschichte. Afghanistan hat eine reiche Tradition in Film, Musik und anderen Medien, doch die Machthaber machen klar, dass sie keine nicht-islamische Kunst oder Kultur mit dem Land in Verbindung bringen wollen.

Zwei Künstler, denen AFI bei der Umsiedlung half, hatten zuvor an der Restaurierung der Buddha-Statuen von Bamiyan gearbeitet – Monumente aus dem 6. Jahrhundert, die im März 2001 von den Taliban zerstört wurden.

Die Zerstörung war symbolisch: „Die Taliban wollten nicht, dass die Buddhas erhalten blieben, weil sie zeigten, dass der Buddhismus in Afghanistan Wurzeln hatte oder dorthin gelangt war. Das untergrub ihre Kontrolle über die historische Erzählung“, sagt Sethi.

Das Auslöschen der kulturellen Geschichte und die Missachtung der Kunst sind ein schwerer Verlust für die Menschen in Afghanistan. Sie entfremden die Bevölkerung von ihren Wurzeln und berauben insbesondere Künstler*innen der Möglichkeit, sich mit ihrem kulturellen Erbe auseinanderzusetzen. Auch die Wirtschaft leidet.

Laut der UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD) spielt die Kreativwirtschaft – also die Produktion und Verbreitung von Gütern und Dienstleistungen, die auf Kreativität und geistigem Eigentum beruhen – eine zentrale Rolle für das Wirtschaftswachstum, insbesondere in Entwicklungsländern. UNCTAD und UNESCO schätzen, dass die kreativen Branchen jährlich rund 2,3 Billionen US-Dollar umsetzen und 6,2 % der weltweiten Arbeitsplätze sichern.

Seit der Rückkehr der Taliban ist Afghanistans Wirtschaft um 27 % geschrumpft und zeigt erst jüngst wieder vorsichtige Anzeichen von Wachstum. Ausländische Investitionen durch internationale Zusammenarbeit sind zurückgegangen, 9,5 Millionen Menschen sind von akuter Nahrungsmittelunsicherheit betroffen.

Da immer mehr Frauen aus der formellen Erwerbstätigkeit verdrängt werden, liegt ihre Beteiligung am Arbeitsmarkt Schätzungen zufolge nur noch bei 5 %. Das hindert sie daran, ihre Unabhängigkeit zu sichern, und begrenzt sowohl die Haushaltseinkommen als auch das Wirtschaftswachstum des Landes.

Indem Künstler*innen eingeschüchtert und ihnen faktisch die Hände gebunden werden – es sei denn, sie fliehen –, fällt Afghanistan in der Kreativwirtschaft zurück, während andere Länder von der nachhaltigen Entwicklung, Vielfalt und dem Wirtschaftswachstum profitieren, die sie antreibt.

Afghanische Kulturschaffende in Deutschland: Visa-Stopp gefährdet Leben

Deutschland hat besonders gefährdeten Afghan*innen Schutz im Rahmen des Bundesaufnahmeprogramms (BAP) versprochen – doch dieses Versprechen wankt. Seit April 2025 stoppt das Auswärtige Amt alle Visa für gefährdete Afghan*innen, darunter viele Künstler*innen und Aktivist*innen, obwohl sie bereits alle Prüfungen und Voraussetzungen erfüllt haben.

Über 2.400 Betroffene sitzen derzeit in Pakistan fest, viele unter akuter Abschiebungsgefahr zurück nach Afghanistan, wo ihnen Verfolgung, Folter oder Tod drohen. Seit ein paar Tagen läuft in Islamabad eine Großrazzia zum Aufspüren von Afghan*innen ohne gültiges Aufenthaltsvisum für Pakistan. Im Fokus stehen auch jene, die mit einer Aufnahmezusage für die Bundesrepublik in der pakistanischen Hauptstadt festsitzen und dort von der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) versorgt werden.

Hilfsorganisationen warnen: Jede weitere Verzögerung im Aufnahmeprozess gefährdet Menschenleben und bedroht den Erhalt afghanischer Kultur.

Was du jetzt konkret tun kannst:

  • Nimm an der Aktion von Global Citizen teil und tagge deutsche Politiker*innen 
  • Schreibe deinen Bundestagsabgeordneten und dem Auswärtigen Amt und fordere die umgehende Erteilung aller zugesagten Visa.
  • Teile die Forderung unter den Hashtags #KeepBAPPromises und #ArtistsAtRisk und markiere @GermanyDiplo und @AuswaertigesAmt, um öffentlichen Druck zu erhöhen.
  • Unterzeichne und verbreite die Petition von Campact und Kabul Luftbrücke zur Fortsetzung des Programms

Wie Global Citizens helfen können

Weltweit sind die bürgerlichen Freiheiten, die künstlerische Freiheit ermöglichen, bedroht. Von Afghanistan bis Iran bringen autoritäre Gruppen Kulturschaffende zum Schweigen, um die nationale Erzählung zu kontrollieren, Kritik zu unterdrücken und ihre Macht zu sichern. Auch in Ländern wie Ungarn oder den USA wird Kunst effektiv zensiert – besonders, wenn sie Vielfalt als Stärke betonen oder LGBTQ+-Themen aufgreifen.

Solange Zensur besteht, kann das Potenzial der Kreativwirtschaft nicht ausgeschöpft werden. Wohlhabendere Länder können die Folgen vielleicht abfedern – ärmere Nationen werden weiter zurückfallen.

Um gefährdete Künstler*innen zu unterstützen und kulturelle Traditionen zu bewahren, ist es wichtig, sich mit der Arbeit von geflüchteten Künstlern auseinanderzusetzen und ihre Stimme zu verstärken – zum Beispiel durch Auftrittsmöglichkeiten, Proberäume,Besuche von Ausstellungen oder Konzerten, das Teilen ihrer Geschichten oder die Unterstützung von Initiativen wie AFI.

Global Citizen hat zudem die Music Economy Development Initiative (MEDI) gestartet – eine Zusammenarbeit mit dem Center for Music Ecosystems und der International Finance Corporation (IFC). Ziel ist es, das Potenzial von Musik zu nutzen, um Jobs zu schaffen, Einkommen zu steigern und Gemeinschaften zu stärken.

Werde aktiv, um Meinungsfreiheit weltweit zu schützen, und zeige Solidarität mit Künstlerinnen und Künstlern im Exil.

Global Citizen Explains

Armut beenden

Wer bewahrt Afghanistans Kunst & Kultur? Lerne die Artistic Freedom Initiative kennen

Ein Beitrag von Jaxx Artz