​​Der zivilgesellschaftliche Raum in Bosnien und Herzegowina wird vom CIVICUS Monitor als "eingeschränkt" bezeichnet. Im Juni 2020 wurden Bedenken geäußert, wie offen der zivilgesellschaftliche Raum in dem Land ist, insbesondere im Zusammenhang mit Angriffen auf die Medien. Organisationen der Zivilgesellschaft befinden sich in einer schwierigen Situation.

"Beim Schaffen eines günstigen Umfelds für die Zivilgesellschaft wurden keine Fortschritte erzielt. Sinnvolle und systematische Konsultationen mit der Zivilgesellschaft müssen [in Bosnien und Herzegowina] noch sichergestellt werden", heißt es in einem Bericht der Europäischen Kommission aus dem Jahr 2022.

Doch trotz der Herausforderungen führen Organisationen wie Education Builds Bosnia and Herzegovina – Jovan Divjak ihre Arbeit fort. Hier berichtet der stellvertretende Geschäftsführer Sanjin Hamidičević wie die Organisation Tausenden von gefährdeten jungen Menschen und ihren Familien geholfen hat.

Ich bin 34 Jahre alt und wurde in Bosnien und Herzegowina (BiH) geboren – vier Jahre, bevor Bosnien und Herzegowina seine Unabhängigkeit erklärte und der Krieg begann.

In einem Land, das nach wie vor ethnisch tief gespalten ist, bin ich stolz darauf, mich als Bosnier zu bezeichnen, da ich einen gemischten Hintergrund aus allen drei großen ethnischen Gruppen habe. Die Verfassung von Bosnien und Herzegowina erkennt "Bosniak*innen, Kroat*innen und Serb*innen als konstituierende Völker (zusammen mit anderen) und Bürger*innen von Bosnien und Herzegowina" an und teilt damit die gesamte politische Macht zwischen den drei großen ethnischen Gruppen auf. Alle, die sich dem nicht anschließen, besitzen weniger politische Rechte. Aber ich will hier nicht über Politik schreiben.

Zwischen 1992 und 1995 herrschte in Bosnien und Herzegowina ein ethnisch motivierter Krieg, an dem hauptsächlich die offiziellen Streitkräfte der Republik Bosnien und Herzegowina und die Streitkräfte der beiden Quasi-Staaten Herzeg-Bosnien (von den Kroat*innen ausgerufen und von Kroatien unterstützt) und Republika Srpska (von den Serb*innen ausgerufen und von Serbien, der damaligen Bundesrepublik Jugoslawien, unterstützt) beteiligt waren.

Während des Krieges wurden zahlreiche Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen, die dazu führten, dass über zwei Millionen Menschen vertrieben und über 100.000 getötet wurden (darunter über 8.000 beim Völkermord in Srebrenica 1995). Mit dem im Dezember 1995 unterzeichneten Friedensabkommen wurde der Krieg beendet, doch es gab noch viele verheerende Auswirkungen: Waisenkinder, ein geteiltes Bildungswesen und eine fehlende Aufarbeitung und Vergangenheitsbewältigung.

Im Gegensatz zu vielen Kindern in Bosnien und Herzegowina gehörte ich zu den wenigen, die das Glück hatten, während des Krieges keine Familienmitglieder verloren zu haben und die sich auch nicht daran erinnern konnten, während des Krieges traumatische Ereignisse erlebt zu haben. Noch mehr Glück hatte ich, dass ich nach dem Krieg im Ausland leben und in verschiedenen Ländern ausgebildet werden konnte, was meinen Blickwinkel erweiterte. Im Jahr 1994 gingen wir nach Schweden und kamen 1997 zurück. Von 2001 bis 2008 war ich drei Jahre in der Schweiz und vier Jahre in Belgien. Mein Vater arbeitete ab 1993 für das Außenministerium und ich konnte ihn bei seinen Auslandseinsätzen begleiten.

Meine Kindheit war also durchmischt, es gab die Wurzeln in BiH, aber auch Umfelder und Einflüsse anderer Gesellschaften. Ich erinnere mich, dass ich in Schweden als Kind aus einem vom Krieg zerrütteten Land bezeichnet wurde, aber als ich nach Hause zurückkehrte, hatte ich auch manchmal das Gefühl, dass ich als anders wahrgenommen wurde – als ob ich während des Krieges nicht in BiH gewesen wäre. 

Ich habe mich nie als Aktivist betrachtet. Ich bin nicht die Person, die man in der ersten Reihe findet und die laut wird. Aber meine Freund*innen haben mir bewiesen, dass ich ein Aktivist bin, denn es gibt verschiedene Formen des Aktivismus.

Das erste Mal bin ich über die Association Pravnik aktiv geworden, eine 2006 von Student*innen gegründete Vereinigung, die junge Student*innen in Südosteuropa durch nicht formale Bildungsangebote unterstützt. Unsere Hauptaufgabe bestand darin, junge Menschen aus Bosnien und Herzegowina über die Themen Übergangsjustiz, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte aufzuklären. Die Ergebnisse, auf die wir am meisten stolz sind, sind nicht nur die Bildung der Teilnehmenden, sondern auch der Einfluss, den unsere Programme auf sie haben, sodass sie sich in diesen Bereichen engagieren und in ihren Gemeinschaften Veränderungen bewirken, ob als Aktivist*innen, Fachleute oder Akademiker*innen. Mit diesen Programmen ergänzen wir die formale Bildung, indem wir durch eine Vielzahl von Dozent*innen, die nicht unbedingt aus dem akademischen Bereich kommen, sondern selbst Aktivist*innen oder Fachleute mit praktischer Erfahrung in einem der Bereiche sind, tiefere Einblicke vermitteln.

Während ich immer noch in der Vereinigung Pravnik aktiv bin, ist meine berufliche Arbeit inzwischen ebenfalls von Aktivismus geprägt gewesen.

Sanjin is photographed at the Sarajevo Information Center on the ICTY.
Image: Courtesy of Hamid Jamakovic

Ich habe  für das Center for Security Studies – BiH gearbeitet, wo ich mich unter anderem mit der Achtung der Menschenrechte durch die Institutionen des Sicherheitssektors befasst habe, insbesondere im Hinblick auf die Gleichstellung der Geschlechter. Dies brachte mich zu meinem Aktivismus bei der Foundation of Local Democracy, einer lokalen Nichtregierungsorganisation (NRO), die sich auf die Menschenrechte von Frauen konzentriert und Betroffenen von Gewalt über ein Zentrum Dienstleistungen anbietet. Zudem leitet die NRO ein Frauenhaus für Betroffene häuslicher Gewalt im Kanton Sarajevo. Die Organisation zielt darauf ab, Bedürftige direkt zu unterstützen und brachte mich zu meinem jetzigen Arbeitgeber, einer Organisation namens Education Builds Bosnia and Herzegovina - Jovan Divjak.

Am 28. Juli 1994 gründeten 58 Bürger*innen von Sarajewo, darunter Intellektuelle, Theaterangestellte, Künstler*innen und Schriftsteller*innen, Soldat*innen und Polizist*innen, die Organisation Educations Builds BiH, deren Hauptaufgabe es ist, Kindern von Kriegsopfern zu helfen.

Nach 27 Jahren Arbeit verließ uns 2021 der Initiator der Idee, einer der Gründer und unser langjähriger Geschäftsführer, Jovan Divjak. Im Gedenken an ihn änderte der Verein seinen Namen zu "Education Builds BiH – Jovan Divjak".

Der Verein wird nicht von staatlichen Institutionen finanziert, so dass er die Mittel für Stipendien und andere Aktivitäten durch Mitgliedsbeiträge, die Organisation von philanthropischen Kulturveranstaltungen (Konzerte, Ausstellungen usw.), Verlagstätigkeiten, Bildungsprojekte, Spenden von Unternehmen und Einzelpersonen aufbringt. Es ist wichtig zu erwähnen, dass der Verein über eigenes Eigentum sowie materielle und technische Ressourcen verfügt, was eine ununterbrochene Arbeit mit den Betroffenen ermöglicht.

Wenn man im NRO-Sektor tätig ist, wird man von Zeit zu Zeit mit finanziellen Herausforderungen konfrontiert. Das ist leider etwas Unvermeidliches, besonders in Bosnien und Herzegowina. Für uns und unsere Arbeit sind die Möglichkeiten der Mittelbeschaffung begrenzt, insbesondere im Hinblick auf die nicht vorhandenen Steuervorteile für Privatpersonen und die begrenzten Steuervorteile für Unternehmen.

Wir arbeiten derzeit in Arbeitsgruppen innerhalb eines umfassenderen Projekts, dem Rechtsrahmen für Philanthropie, in dem wir versuchen, uns für Gesetzesänderungen einzusetzen, beispielsweise für die Abschaffung der Notwendigkeit für Unternehmen, die Mehrwertsteuer auf gespendete Lebensmittel zu zahlen, oder für die Erleichterung von Spenden für humanitäre Organisationen und NROs im Allgemeinen.

Kürzlich wurde die Gesetzgebung dahingehend ausgelegt, dass NROs auf Zuschüsse Mehrwertsteuer zahlen sollten, da sie eine Dienstleistung für den Spender erbringen. Diese Maßnahmen würden die Arbeit zivilgesellschaftlicher Organisationen noch weiter einschränken. Deshalb setzen wir uns alle für Gesetzesänderungen ein, in denen klar festgelegt wird, was eine Dienstleistung und/oder ein Zuschuss und/oder ein Sponsoring ist. Wir setzen uns für eine Änderung der Rechtsvorschriften in Bezug auf Lebensmittelspenden ein, insbesondere unter Berücksichtigung der Lebensmittel, die verschwendet und weggeworfen werden, weil es rentabler ist, sie zu vernichten, als sie zu spenden und die Mehrwertsteuer zu zahlen.

Darüber hinaus hat die Zivilgesellschaft mit anderen Herausforderungen zu kämpfen, wie einer negativen und/oder ungenauen öffentlichen Wahrnehmung und Darstellung in den Medien, politischen Turbulenzen und Finanzierung. Man darf nicht vergessen, dass die Finanzierung aus dem Ausland auch von denjenigen genutzt werden kann, denen nicht gefällt, was man tut, um zu behaupten, man sei in "ausländische Spionage verwickelt" (was in der Region und in Europa in letzter Zeit immer wieder zu hören ist).

Sanjin Hamidicevic poses for a photograph at the offices of the Association Education Builds Bosnia and Herzegovina - Jovan Divjak.
Image: Courtesy of Hamid Jamakovic

Doch trotz all dieser Herausforderungen ist der zivilgesellschaftliche Raum in Bosnien und Herzegowina recht lebendig.

In den 28 Jahren, seit denen unsere Organisation tätig ist, leistete sie täglich Hilfe für Kinder, die Opfer des Krieges wurden, für Kinder/Jugendliche mit Behinderungen, für Kinder/Jugendliche der nationalen Minderheit der Roma und für unterprivilegierte Kinder/Jugendliche. Der Verein, dessen Türen immer offen stehen, hat den größten Teil seiner Aufgabe erfüllt – wir haben vor allem Kinder, Jugendliche und ihre Eltern/Erziehungsberechtigten in Bosnien und Herzegowina moralisch und materiell unterstützt.

Über 60.000 Kinder, Jugendliche und ihre Familien haben Leistungen im Wert von über 6,5 Millionen Euro in Anspruch genommen. Seit April 2022 bin ich stellvertretender Geschäftsführer und Projektleiter der Organisation. Wir sind ein kleines Team und die Titel sind nicht so wichtig. Wir teilen dieselben Werte und wollen jungen Menschen in Bosnien und Herzegowina helfen.

Vor kurzem hatten wir ein Treffen mit Stipendiat*innen der nationalen Minderheit der Roma, das mich daran erinnert hat, wie wichtig das ist, was ich tue und was die Vereinigung tut. Wir haben ihnen für das letzte Schuljahr ein Stipendium gewährt und diese Gelegenheit genutzt, um sie zu motivieren, die Sekundarstufe abzuschließen und auch über ein Studium nachzudenken, indem wir mit Stipendiat*innen sprachen, die derzeit an der Universität eingeschrieben sind. Wir haben die Gelegenheit auch genutzt, um sie daran zu erinnern, dass unsere Türen offen sind und dass sie sich jederzeit an uns wenden können, wenn sie Probleme oder Ideen haben.

Unmittelbar nach dem Treffen kam ein junger Gymnasiast aus einer Stadt in der Nähe von Sarajevo auf mich zu und fragte mich, ob wir ihm und einigen seiner Freunde helfen könnten, eine Vereinigung von Roma-Jugendlichen zu gründen, da die Roma-Vereinigung ein Instrument der Verantwortlichen sei, um Geld zu verdienen und nicht, um die Situation zu verbessern. Dies wird also eine unserer nächsten Aktivitäten, diesen jungen Mann und seine Freunde dabei zu unterstützen, in ihrer eigenen Community etwas zu verändern.

Dieser Beitrag wurde aus Gründen der Klarheit überarbeitet.


Die Reihe "In My Own Words" von 2022 wurde dank der Finanzierung durch die Ford Foundation ermöglicht.

In My Own Words

Armut beenden

Ich habe mich nie als Aktivist gesehen – bis ich begann, mich für die Kinder in Bosnien & Herzegowina einzusetzen

Ein Beitrag von Sanjin Hamidicevic