Alle Jahre wieder kommt DAS Fernsehereignis, von dem keiner zugeben will, es zu gucken, aber hinterher dann doch wieder alle drüber sprechen: der Eurovision Song Contest (und für alle Nostalgiker unter uns: der Grand Prix Eurovision de la chanson. Ganz ehrlich, klingt einfach besser).

Wie auch immer. Die Legende will, dass der Eurovision Song Contest nach dem zweiten Weltkrieg ins Leben gerufen wurde, um Frieden und ein Gemeinschaftsgefühl unter den eher weniger freundlich gestimmten europäischen Ländern zu säen. Leider ist die schnöde Wahrheit weniger romantisch. Denn durchaus vertrauensvollen Quellen nach zu urteilen, ging es 1956 vor allem darum, die Grenzen einer Live-übertragenden Fernsehshow zu testen.   

Wie auch immer. Eins bleibt klar. Kaum ein anderes Thema spaltet die Nationen (und den versammelten Familien- und/oder Freundeskreis vor dem Fernseher) mehr als die Aussage: letztendlich gewinnt doch eh das Land, dass die besten Nachbarn hat, die einem die Punkte aus Solidarität zuschieben. Der Eurovision Songcontest ist mehr ein Länder-Freundschaftstest auf Loyalität, als das es irgendwie um Talent und Musik geht.

Naja.

Auch wenn sich dieses Gerücht wirklich hartnäckig hält, gibt es (jetzt gut festhalten) keine wissenschaftlich nachgewiesenen Untersuchungen bzw. Statistiken, die diese These stützen. Und sind wir mal ehrlich, wie hätte denn Großbritannien schon viermal gewinnen können, wenn es einzig und allein um Beliebtheit geht? Eben.

Wie immer man es also auslegen will, halten wir fest: beim Eurovision Song Contest ging es trotzallem noch nie nur um Musik, sondern auch schon immer um ein bisschen mehr. Hier sind 6 Beispiele:  

1974 

Im Jahr 1974 gewann zwar die schwedische Pop-Band Abba mit ihrem zur Ikone aufgestiegenen Song 'Waterloo' den Contest, aber der historisch gesehen wahre Gewinner war Portugals Beitrag von Paulo de Carvalho, der sogar in die Geschichte des Landes einging.

Denn knapp einen Monat nach dem Contest rührte sich es politisch in Portugal. Teile des links-gerichteten Militärs beschlossen, sich gegen die damalige diktatorische Regierung unter Marcelo Caetano aufzulehnen. Um die Revolution zu starten, beschloss einer der damaligen Generäle, ein geheimes Signal über den Radiosender 'Renascenca' zu senden - und zwar kein geringeres als Paulo de Carvalho Eurovision-Lied 'E Depois do Adeus' (auf Deutsch: Und nach dem Abschied).

Während also viele Lieder des Song Contest etliche Kontroversen anstießen, brachte der portugiesische Beitrag am 25. April 1974 eine ganze Revolution, heute als 'Nelkenrevolution' bekannt, ins Rollen. 


1978

Das ganze Spektakel mag zwar 'EUROvision' Song Contest heißen, aber die Teilnahme ist nicht strikt auf europäische Länder beschränkt. So dürfen auch Länder teilnehmen, die Mitglied der ‘European Broadcasting Union’ (Europäische Rundfunkorganisation) sind, welches Länder aus Nordafrika und Vorderasien einschließt. 

1978, als es um die Beziehung zwischen Israel und seinen umliegenden Nachbarstaaten eher schlecht bestellt war, beschloss Jordanien, den israelischen Auftritt nicht zu zeigen und kappte kurzerhand die Live-Übertragung. Stattdessen durften sich die Zuschauer in der Zwischenzeit Bilder von Blumen anschauen.
Wie das Schicksal so will, sollte Israel aber genau in diesem Jahr den Contest gewinnen, was den jordanischen TV-Sender dazu zwang, die Übertragung kurz vor Ende der Show (und Bekanntgabe des Gewinners) dann ganz zu beenden. Medien im Land berichteten hinterher, das (das eigentlich zweitplatzierte) Belgien gewonnen hat (ja, so etwas konnte man vor der Erfindung des Internets tatsächlich noch bringen).  


1981

Die Franzosen nehmen bekanntlich eher selten ein Blatt vor den Mund. So auch nicht Frankreichs Beitrag im Jahr 1981. Kurz nachdem Ronald Reagan sein Amt als Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika antrat, trat der Sänger Jean-Claude Pascal als Kandidat für Frankreich auf die Eurovision Song Contest Bühne und sang seinen Song "Maybe It Isn't America (Because America Isn't the Be-All)", was man frei übersetzt als 'Es muss nicht immer Amerika sein, denn Amerika ist nicht das A und O' interpretieren kann. Trotz des politischen Seitenhiebs war die Melodie wohl nicht überzeugen genug, denn der Song schaffte es gerade mal auf Platz 11.

Heute würde es so ein Song-Statement übrigens sehr wahrscheinlich nicht mehr auf die Bühne schaffen, denn politische Aussagen im Liedtext sind laut dem ESC Zentralkomitee ausdrücklich untersagt. 

2009

Image: Eurovision.tv

2009 fand der Songcontest in Moskau statt, was an sich schon für ausschweifende Debatten sorgte, da Fans des bis dahin bereits als recht liberal auftretenden Songcontests starke Zensur durch russische Hand befürchteten. Wie auch immer, die Schwulen- und Lesbenbewegung (LGBT) wollte die Gelegenheit nutzen und rief zum friedlichen Protestmarsch in den Straßen Russlands auf. Moskau allerdings machte auch hier keine Ausnahme, zerschlug den Marsch und nahm 40 Aktivisten fest, unter ihnen auch die Menschenrechtsaktivisten Nikolai Alexejew und Peter Tatchell. Daraufhin drohten die Teilnehmer aus den Niederlanden 'The Toppers' als auch der niederländische TV-Sender, der den Contest übertragen wollte, das ganze zu boykottieren, was Russland allerdings leider unbeeindruckt ließ. 

2013

Image: Eurovision.tv

Auch Finnlands Kandidatin Krista Siegfrids nutze das internationale Scheinwerferlicht, um ein Zeichen für die Gleichberechtigung von Männer und Frauen zu setzen. Sie trat für ihren Beitrag 'Marry me' (Heirate mich) in einem opulenten Hochzeitskleid auf und küsste kurzerhand eine ihrer weiblichen Tänzerinnen während ihres Auftritts auf der Bühne. 

Und wenn wir schon mal dabei sind:
trotz der vielen LGBT-Befürworter und der Gewinnerin Conchita Wurst aus dem Jahr 2014, hat der Eurovision Song Contest doch noch ein paar Schritte in Richtung echte Liberalität zu gehen. Denn für dieses Jahr hat das ESC-Zentralkomitee das Schwenken von Fahnen in Regenbogenfarben als 'politisches Statement', vor allem während des Auftritts des russischen Kandidaten Sergey Lazarev, untersagt. Ah ja. Also liebe 'Spaß mit Flaggen' Freunde, Fahnen immer ganz unpolitisch schwenken, locker aus dem Handgelenk. 


2016


Und auch dieses Jahr gab es reichlich Schlagzeilen, schon lange vor dem eigentlichen Event. In Deutschland machte das Ja und dann Nein zur Nominierung Xaiver Naidoos die Runde, bevor nun feststeht, dass die 18-jährige Jamie Lee heute Abend Deutschland auf der schwedischen Eurovision Bühne vertreten wird.

Ebenso spannend dürfte die Tatsache sein, dass das diesjährige Motte des Eurovision Song Contest (es gibt ein Motto? Ja, es gibt jedes Jahr ein Motto) die aktuelle Flüchtlingskrise sein soll. Måns Zelmerlöw, Gewinner des Contest aus dem letzten Jahr, hatte bereits zu Beginn des Jahres seine Regierung für ihre strike Einstellung gegenüber den geschlossenen schwedischen Grenzen geäußert. Man darf also gespannt sein, wie der Song Contest das 'Motto' entsprechend umsetzen will.   



In einem Jahr, in dem Schlagzeilen über ein immer weiter auseinanderdriftendes Europa mehr und mehr zu dominieren scheinen, gewinnt der Eurovision Song Contest noch ein Stückchen mehr an Bedeutung. Denn der Eurovision bietet die Gelegenheit, sich gemeinsam und ungetrübt an etwas zu erfreuen, was wir alle lieben und schätzen: die Musik. Und sind wir doch mal ehrlich: wir alle lieben die Überraschungen auf der Bühne, die verrückten Outfits, die mitunter kuriosen Bühnenshows und die immer mal wieder eher fragwürdigen 'Gesangstalente'. Da sind wir alle gleich und alle eins. Hoffen wir, dass diese einstimmige Atmosphäre sich langfristig auf Europa ausbreitet.  

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6 Beispiele, dass es beim Eurovision Song Contest schon immer um mehr ging, als nur Musik

Ein Beitrag von Yosola Olorunshola